Rachlust - Dicte Svendsen ermittelt
Handtücher und eine kleine Schüssel. In dem Bett lag ein sechsjähriger Junge und schlief. Er verschwand quasi unter der Decke, die mit Disneyfiguren bedruckt war: Donald Duck, Daisy und die Kinder, Gustav Gans, Daniel Düsentrieb und Dagobert Duck mit Stock und Gamaschen.
Das Leben des Jungen hatte nichts Disneyhaftes an sich. Dashier war kein Dornröschen, das schlief und auf seinen Prinzen oder in diesem Fall auf seine Prinzessin wartete. Nicht die gute Fee war mit Geschenken vorbeigekommen, die böse Fee hatte ihm ganz offensichtlich einen Besuch abgestattet. Sie hatte ihn erblinden lassen und dafür gesorgt, dass sein Nervensystem gelähmt war, so dass er keine Kontrolle über seine Bewegungen hatte.
Kasper war erst sechs und hatte jetzt schon keine Zukunft mehr.
Wenn man es nicht besser wüsste, hätte man dasselbe über seine Mutter sagen können, die Wagner noch nie zuvor gesehen hatte, die ihm aber irgendwie bekannt vorkam.
Er hatte noch nie einen Menschen gesehen, der so fragil, fast gläsern wirkte und trotzdem in der Lage war, auf zwei Beinen zu stehen. Es sah aus, als hätte jemand die Haut von Sally Marianne Andersen Schicht für Schicht abgezogen, bis nur noch eine hauchdünne Membran übriggeblieben war, die Muskeln, Sehnen und Knochen bedeckte und von der Luft trennte, die in der Wohnung so stickig wie in einem Vernehmungsraum war. Die Haut um ihre Augen war besonders dünn geworden. Als hätte der Körper alles Blut dort gesammelt, war sie blau und schwarz. Ihr blondes Haar war strähnig und sah ungepflegt aus, obwohl es frisch gewaschen war. Ihre Augen sahen ihn zwar an, aber Wagner war davon überzeugt, dass sie sich nach dem Gespräch an nichts erinnern würde. Diese Augen hatten schon alles gesehen und wünschten sich nur einen Augenblick Ruhe, um das System herunterfahren zu können.
Sie strich dem Jungen mit der Hand über die Wange.
»Na, mein kleiner Freund. Geht es dir gut?«
Aber sie bekam keine Antwort auf ihr leises Flüstern. Sie sah Wagner an und nickte ihm zu. Ihre Stimme klang sehr dünn und zerbrechlich.
»Heute hat er glücklicherweise einen guten Tag. Um zwölf kommen die vom Pflegedienst und kümmern sich um ihn. Und meine Freundin kommt später, damit ich ein paar Stunden arbeitengehen kann. … Das heißt … zumindest war das der Plan heute Morgen, aber jetzt …«
Sally Andersens Stimme verlor alle Kraft. Ihr Gesicht erstarrte.
»Polizei, sagen Sie?«
Sie sah von Wagner zu Jan Hansen, einerseits konzentriert, aber auch nervös.
»Was wollen Sie eigentlich hier?«
Jan Hansen räusperte sich.
»Können wir uns kurz hinsetzen und uns unterhalten?«
»Unterhalten?«
Sie sah sich im Raum um, als würde sie nicht wissen, wo sie sich befand. Im Profil sah Wagner ihren schmalen Hals und die hohen Wangenknochen, scharf wie Tischkanten. Unter ihrer etwas verwahrlosten Oberfläche war sie eine schöne Frau. Aber ihr hartes Leben hatte sie dieser Hülle beraubt. Sie war die Mutter eines kranken, pflegebedürftigen Kindes. Die Gewissheit, dass die Krankheit nicht aufzuhalten war und dass es keine Hoffnung auf Heilung gab, musste unerträglich sein. Ein hartes Schicksal auch für den stärksten Menschen, und Sally Andersen wirkte alles andere als stark.
»Hier vielleicht«, murmelte sie und führte sie wie eine Schlafwandlerin in eine winzige Küche. Sie setzten sich an einen Klapptisch mit karierter Decke, die voller Krümel und Fettflecken war. Der Abwasch stapelte sich in der Spüle und auf der Ablage. Auf dem Tisch stand ein voller Aschenbecher, daneben lag eine Packung Zigaretten, Camel.
»Wollen Sie?«
Sally Andersen hielt ihnen die Packung hin. Sie lehnten dankend ab, während sie sich eine Zigarette aus der Schachtel klopfte und sie mit einem Feuerzeug, auf der eine nackte Frau prangte, anzündete.
»Wir wollten Sie in erster Linie fragen, ob sie ein Paar Schuhe der Marke Adidas Superstar G2 besitzen, die so aussehen.«
Jan Hansen holte ein Foto aus seinem Klarsichthefter, dener zusammengerollt in seiner Hand gehalten hatte. Sally Andersen lehnte sich vor und betrachtete die Aufnahme.
»Warum?«
»Wenn Sie bitte nur die Frage beantworten würden«, sagte Wagner freundlich. »Das würde es uns etwas leichter machen.«
Sie schüttelte den Kopf.
»Das glaube ich nicht.«
»Glauben Sie nicht?«
Erneutes Kopfschütteln.
»Nein, solche Schuhe habe ich nicht.«
»Haben Sie Ihre EC-Karte in letzter Zeit ausgeliehen oder sie verloren?«, fragte
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