Rachlust - Dicte Svendsen ermittelt
filigraner Silberschmuck mit Steinen, eventuell Rubine.
»Ich möchte meine eigene Geschichte erzählen, so, wie ich sie sehe. Mir war es wichtig, dass Sie es sind, weil ich Ihnen vertraue.«
Dicte wusste nicht richtig, wie sie darauf reagieren sollte. Einerseits war sie geschmeichelt, andererseits war klar, dass ihre Interviewpartnerin Bedingungen stellte und sie damit zu beeinflussen versuchte.
»Wenn ich das richtig verstanden habe, geht es in diesem Interview um die Gründe, warum Sie getan haben, was Sie getan haben? Stimmt das?«
Francesca Olsen sah sie lange an, es kam Dicte wie Minuten vor, bis sie endlich nickte.
»Genauso ist es. Eines möchte ich noch hinzufügen: Sie schreiben die Geschichte. Nicht ich. Ich lese den Text gerne auf inhaltliche Fehler durch und möchte auch am liebsten korrekt zitiert werden, aber die Formulierungen sind die Ihrigen und der Tonfall auch.«
Ihre Hände ließen das Kreuz los und wurden auf den Tisch gelegt, eine offene Geste.
»Ich bin diejenige, die hier ein großes Risiko eingeht. Aber da Sie das letzte Mal einen sehr klaren und sachlichen Artikel geschrieben habe, glaube ich, dass Ihnen das erneut gelingen wird.«
Wieder fehlten Dicte die Worte. Sie fand Francesca weder besonders sympathisch noch das Gegenteil davon, aber die in Kürze ehemalige Bürgermeisterkandidatin erweckte ihre Neugier, wie es bisher nur wenigen gelungen war. Vielleicht war das eine geeignete Grundlage.
»Aber Sie sind sich dessen bewusst, dass das ein juristisches Nachspiel haben wird?«
Sie nickte.
»Natürlich wird es zu einem Gerichtsverfahren kommen, und ich werde wegen Mordes angeklagt. Mir ist bewusst, dass ich mit einer Strafe zu rechnen habe, aber ich hoffe, die Richter werden in der Urteilsfindung meine damalige Situation und die meines Kindes mit in Betracht ziehen.«
»Wann und wo fand das alles statt?«
»Vor fünfzehn Jahren, im September 1993. Wir wohnten damals in Ry.«
Dicte hielt die Luft an. Ihr innerer Alarm hatte sich eingeschaltet.
»Wo in Ry?«
»Mein Mann, William, war zehn Jahre lang der Direktor des Kinderheims ›Titan‹ in Ry. Dort war eine Dienstwohnung angeschlossen …«
»In Ry?«
Francesca unterbrach sich selbst. »Sie sind ja ganz blass. Stimmt etwas nicht?«
Dicte fühlte sich wie ein Computer, der eine Warnung vor dem bevorstehenden Systemzusammenbruch meldete. Peter B, My, Cato. Die Bomben. Der Mord. Die Informationen drehten sich in immer schnelleren Kreisen. Es drohte ein Stromausfall.
»Darf ich ganz kurz auf die Toilette?«
Sie wurde in ein weiß gekacheltes Badezimmer geführt, am oberen Fliesenrand verlief ein blaues Blumendekor. Alles war so sauber. Sie ließ sich ein bisschen Wasser über die Handgelenke laufen. Die Kühle der Fliesen umschloss sie und linderte ihr Fiebergefühl. Sie hätte es ahnen können. Das hatte alles miteinander zu tun, von Anfang an. Der Einbruch in Olsens Haus. Die Autobombe und der Anschlag aufs Solarium. Auch der Mord an Adda Boel? Bei Letzterem war sie sich nicht sicher, aber bei allem anderen ja. Alle Geschichten hatten miteinander zu tun, so wie auch jeder Mensch mit jedem anderen in einer Verbindung stand. Alle waren gefangen in den Netzen aus Vergangenheit, Lügen und Schweigen.
Sie sah in den Spiegel und las in ihrem Blick den Fluchtimpuls. Aber jetzt war sie ein Teil des Ganzen geworden. Sie hatte alles aufs Spiel gesetzt und musste diese Reise zu Ende bringen, die sie schon so weit gebracht hatte. Sie trocknete sich die Hände ab und kehrte zurück zu Francesca Olsen und ihrer Geschichte.
»Vielleicht könnten Sie mir ein bisschen über Ihren Sohn erzählen? Wie alt war er, als Sie … als er starb?«
»Er war fünf. Er hieß Jonas. Er war sehr schwer krank und wäre bald gestorben, er hatte noch wenige Wochen zu leben oder ein bisschen länger.«
Francesca lehnte sich im Sofa zurück. Sie wirkte frei, fand Dicte. Eine Seite von ihr, die ihr vorher nicht aufgefallen war.
»William hatte zwei Schwestern gehabt, die gestorben sind, als sie noch klein waren. Ich wusste damals nichts davon, aberseine dritte Schwester hat es mir später erzählt – genau genommen, als ich mit Jonas schwanger war –, dass nämlich ihre Eltern Träger eines Gendefekts waren, der eine Krankheit hervorruft, die mit dem Spielmeyer-Vogt-Syndrom verwandt ist. Sie heißt CLN2, die klassische Spätinfantile NCL. Beide Schwestern waren daran erkrankt und gestorben, die eine im Alter von fünf, die andere mit zehn Jahren.
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