Rachlust - Dicte Svendsen ermittelt
vierundsechzig Frauen.«
Er schob seine große Hand in eine der Klarsichthüllen und zog ein Papier heraus, das er Wagner reichte.
»Das sind sie. Mit Adresse und Telefonnummer.«
Wagner überflog die Liste, aber auf den ersten Blick kam ihm kein Name bekannt vor.
»Okay, du musst die Liste durchgehen«, sagte er und gab sie Hansen zurück. »Jetzt geht es darum, einen bekannten Namen zu finden. Einen, der schon mal genannt wurde, vielleicht nur peripher mit dieser Sache zu tun hat. Und wenn du dafür jedes Verbrecheralbum überprüfen, die DNA-Datenbank kontaktieren, Fingerabdrücke vergleichen, das Einwohnermeldeamt oder die Kfz-Behörde anrufen musst, Hauptsache, wir finden eine Verbindung.«
Jan Hansen nickte und machte sich gleich an die Arbeit. Wagnersah auf die Uhr. Er ging in die Kantine und holte sich was zu essen, obwohl sein Körper nach etwas anderem als Lebensmittel verlangte. Er war erschöpft. Die Konfrontation mit Dicte Svendsen hatte ihn viel Kraft gekostet, und als er ins Präsidium zurückgekommen war, hatte ihn dort die Nachricht von der Schule in Viby erwartet. Er fühlte sich entkräftet. Er war so müde, dass er meinte, tagelang schlafen zu können, ohne aufzuwachen.
Um sich aufzumuntern, holte er sich eine Zimtschnecke und einen Becher Kaffee, setzte sich in eine Ecke der Kantine und versuchte, die Gedanken zu sortieren. Die Geschichte mit Dicte Svendsens Sohn, den sie als Teenager bekommen und zur Adoption freigegeben hatte, kannte er. Er hatte sie vor vielen Jahren mal gehört. Man könnte meinen, dass mit einer Adoption die Sache abgeschlossen sei, aber so war das nicht für Svendsen. Es schien, als würde nichts jemals aufhören. In allem musste herumgewühlt werden, darum durfte es ihn nicht überraschen, dass sie auch diese Geschichte nicht auf sich hatte beruhen lassen können. Schon gar nicht, wenn es um ihr eigen Fleisch und Blut ging. Denn so war sie nun mal, wie isoliert sie auch erscheinen mochte, rein familiär betrachtet – er hatte die Geschichten über die Abkehr von der Zeugen-Jehova-Familie von Ida Marie erzählt bekommen. Sie wollte ihre Liebsten um sich haben, sie an sich binden. Wie viele Jahre hatte sie wohl diese Leere in sich gespürt, wenn sie an ihren Sohn dachte? Wie sie ihn gefunden hatte – oder er sie –, konnte er nur erraten, aber er vermutete, dass es etwas mit seiner Nierenerkrankung zu tun hatte. Und jetzt deckte und versteckte sie ihn. Und obendrein war es ihr gelungen, die Aufmerksamkeit auf eine andere Person zu lenken: Cato Nielsen.
Wagner kaute seinen letzten Bissen und spülte ihn mit dem Teerkaffee aus der Kantine herunter, für den sich sein Magen fast immer rächte. Das hatte sie gut gemacht. Allerdings ging es ihm auch wahnsinnig auf die Nerven. Aber in erster Linie war es raffiniert gemacht.
Auf dem Weg zur Ausnüchterungszelle steckte er den Kopf ins Zimmer seines Vorgesetzten. Christian Hartvigsen war damit beschäftigt, mit einer feuchten Serviette einen Ketchupfleck von seiner Krawatte zu reiben. Aber die Serviette löste sich auf und hinterließ kleine weiße Kügelchen auf dem grauen Stoff, während der rote Fleck hartnäckig blieb.
»Das sieht aus wie Blut.«
Hartvigsen gab auf.
»Meine Frau dreht durch, wenn sie das sieht. Das war ein Geburtstagsgeschenk von ihr. Kommen Sie rein!«
Er ließ die Krawatte in Ruhe und warf die Serviette in den Mülleimer.
»Und was gibt es Neues?«
Wagner setzte sich auf die vorderste Kante des Stuhls.
»Ich möchte eine Beurlaubung vom Dienst beantragen.«
»Sie möchten was?«
»Beurlaubung vom Dienst. Sie hatten mir das damals nach Ninas Tod angeboten. Jetzt möchte ich das in Anspruch nehmen.«
Hartvigsen stopfte die Krawatte mit seinen dicken, eher für Handfesteres gemachten Fingern unter seinen Cardigan. Wagner fragte sich, wann er wohl die Zeit dazu fand, den kleinen Hof, den seine Frau und er in Skødstrup besaßen, zu bewirtschaften.
»Ach so, ach ja, das wollen Sie also.«
Er seufzte. »Wir stehen hier gerade unter ziemlichem Druck. Wann hatten Sie denn gedacht zu pausieren?«
»So bald wie möglich.«
Wagner erhob sich. Er musste schnell weg, bevor Hartvigsen anfangen konnte, Ursachenforschung zu betreiben. Es gab so viele Gründe, dass er sie gar nicht alle aufzählen und auch im Moment nicht sagen konnte, welcher am wichtigsten war.
»Ich wollte Ihnen das nur schon einmal ankündigen. Können wir das später besprechen?«
»Lena Lund?«, fragte Hartvigsen. »Läuft das
Weitere Kostenlose Bücher