Rachlust - Dicte Svendsen ermittelt
vollgepumpt mit Psychopharmaka, Schlaftabletten, Alkohol und Drogen.
»Weg«, wiederholte sie. »Nicht mehr gesehen.«
»Und Lulu und Miriam? Haben die ihn auch nicht gesehen?«
Sie schüttelte den Kopf, aber sie hätte auch nicken können, er konnte die Wahrheit in ihrem Gesicht ablesen. Cato war verschwunden. Der Tag, von dem er so oft gesprochen und mit dem er so oft gedroht hatte, war gekommen. Warum ausgerechnet jetzt!
My bestätigte seine bange Ahnung, als sie ihn bei jeder Silbe mit dem Zeigefinger in die Brust pikte.
»Ca-to will Ra-che. Ra-che. Ra-che.«
Rache. Das Wort war ihm sehr geläufig, hatte sich aber im Laufe der Jahre abgenutzt. Aber nicht für Cato, das wussten alle, auch My. Cato konnte alles Mögliche anstellen. Er drehte My den Rücken zu und schlug immer wieder die Arme vor der Brust zusammen und beschwor so jene Gedanken, die er eigentlich am liebsten vertreiben würde.
My gehörte nicht zu ihm, aber er konnte sie auch nicht wegschicken, denn dann würde er garantiert entdeckt werden. Sie mussten das Beste aus der Situation machen. Außerdem hatte sie den Hund dabei. Kaj war ein guter Wachhund, und das könnte ein großer Gewinn sein. Aber ein Hund musste auch gefüttert werden, und die Beschaffung von Lebensmitteln, die sie nicht im Wald fanden, barg ein großes Risiko. Verdammt noch mal. Die beiden waren nicht Teil seines Plans gewesen, aber jetzt waren sie es eben.
»Hast du Hunger?«, fragte er und gab damit einem tief verwurzelten Reflex nach, den nur My in ihm auslöste.
Sie steckte ihre Hände in die riesigen Taschen ihres Anoraks und begann, Sachen hervorzuholen, die sie ihm mit einem Gesichtsausdruck entgegenstreckte, als würde sie Opfergaben darbringen. Schokoriegel, Toblerone, Mars, Pralinen, zwei Äpfel, zwei Bananen und drei kleine Packungen Cornflakes. Und als Letztes einige Dosen Cola.
»Woher hast du das alles?«
Sie antwortete ihm nicht, hatte aber große Schwierigkeiten, die Hände und Füße still zu halten. Ihr unruhiger Tanz bestätigte seine Vermutung, dass sie die Lebensmittel in der nächstgelegenen Tankstelle geklaut hatte, wahrscheinlich dort, wo der Busfahrer sie abgesetzt hatte.
Er wollte sie zuerst ausschimpfen, konnte sich aber nicht dazu überwinden. Und genau das war das Problem bei My. Oder anders gesagt: Das war eines der Probleme. Ein anderes nämlichwar, dass es gar nichts nützen würde. Sie war eben, wie sie war, und weder Drohungen noch Beschimpfungen konnten daran etwas ändern. In die Richtung hatte er viele Erfahrungen gemacht.
»Komm setz dich, dann mache ich ein Feuer an. Es wird gleich warm, das verspreche ich dir.«
Er schob sie auf einen Holzstumpf, auf dem sie sich in ihrem Anorak verkroch, der Hund immer an ihrer Seite. Kaj und My beobachteten ihn mit dem gleichen verwunderten Ausdruck, während er Zweige sammelte und das Lagerfeuer zum Leben erweckte. Danach bereitete er Hafergrütze in seinem Kochtopf zu, den er an das kleine dreibeinige Stativ hängte, das er aus drei alten Eisenstäben gebaut hatte. Unter großen Mühen hatte er einen Metallhaken gebogen, an dem er den Kochtopf befestigte. Er durfte nicht vergessen, den Haken noch weiterzubiegen, damit er die Konstruktion tiefer über das Feuer absenken konnte. Aber vorerst ging es auch so.
Nach der Grütze setzte er Tee auf, und sie saßen, Rücken an Rücken, auf dem Holzstumpf und aßen jeder einen Marsriegel, während ein weiterer Septembertag das Licht erblickte und die Sonne immer mehr an Kraft gewann.
»Wo hast du in letzter Zeit gewohnt? Was hast du so gemacht?«
Sie hatte ihn am Ende in Horsens nicht mehr besucht, was ihn gleichzeitig erleichtert und bedrückt hatte. Dann hatte er sich ausgemalt, dass sie vielleicht endlich ein eigenes Leben angefangen hatte, und hatte sie sich in einer kleinen, gemütlichen Wohnung vorgestellt, den Hund zu ihren Füßen vor einem laufenden Fernseher sitzend, ohne sich aber auf das Programm konzentrieren zu können. Aber so hatte sie wenigstens ein bisschen Gesellschaft, und der Hund zwang sie, nach draußen zu gehen und sich der Gesellschaft auszusetzen. Vielleicht hatte sie einen kleinen Job bekommen, nichts Großes, was besondere Anstrengungen erforderte. An ihrer Intelligenz war nichts auszusetzen. Er hatte immer großen Respekt vor der Art undWeise gehabt, wie sie dachte und reagierte. Niemand konnte eine Situation in so wenigen Worten zusammenfassen oder den Finger auf die Schwachstellen setzen wie My. Leider war die
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