Rachlust - Dicte Svendsen ermittelt
Nachfrage nach dieser Form der Intelligenz nicht besonders groß auf dem Arbeitsmarkt, wo es nur darum ging, Befehle zu befolgen. Kein Unternehmen war bereit für die Wunderwaffe My, die aus einer Mischung von Selbständigkeit und Abhängigkeit bestand. Es stimmte, dass sie besonders viel Fürsorge benötigte, und in irgendeiner Krankenakte stand sehr wahrscheinlich auch ein Befund. Aber in erster Linie hatte My das Bedürfnis, sie selbst sein zu dürfen, ohne sich erklären oder verteidigen zu müssen, dass sie nun einmal so war, wie sie war.
»Im Kollektiv«, lautete ihre Antwort. »Gab ’ne Prügelei. Sind alle psychisch krank. Die ganze Bande. Wurde mit einem Stuhl geschlagen und für drei Tage ins Krankenhaus eingeliefert.«
Sie zeigte ihm die Narbe unter dem Haaransatz an der Stirn und drehte mit dem Zeigefinger Kreise auf der Schläfe.
»Ticken nicht richtig!«
Er seufzte und schluckte das letzte Stück Mars herunter. Nur ein Vollidiot würde My zusammen mit schizophrenen oder paranoiden Menschen unterbringen. Gerade My, die in ihrer ganz eigenen Weise die personifizierte Vernunft und Gelassenheit war.
»Wer tut das schon? Richtig ticken?«
Sie schubste ihn, nicht nur mit dem Ellenbogen, sondern mit dem ganzen Körper.
»Richtig«, sagte sie und schubste weiter. »Richtig.«
»Wer, ich?«
Sie stieß immer weiter, wurde zunehmend aufgeregter.
»Richtig, sehr richtig, am richtigsten.«
»Vielen Dank für dein Vertrauen«, murmelte er und nahm einen Schluck Tee. Das musste er ihr lassen. Niemand hatte so an seine Fähigkeiten geglaubt wie sie, vor allem als sein eigener Glauben ihn endgültig verlassen wollte, so wie auch jetzt.
Cato. Er war vollkommen unberechenbar, und im Moment konnte er so etwas nicht gebrauchen. Mit ein paar unbekannten Variablen konnte er ganz gut zurechtkommen. Aber eine wandelnde Bombe wie Cato war nicht das, was er gerade gebrauchen konnte. Das Risiko war zwar sehr groß, aber es gab keinen anderen Weg: Er musste ihn finden.
Er stand auf und goss den restlichen Tee ins Feuer, das kurz anzischte.
Das war eine Riesenscheiße. Das war der Anfang einer Katastrophe, daran bestand kein Zweifel. Die Frage war nur, ob er etwas unternehmen konnte, um sie abzuwenden.
KAPITEL 12
Cipramil.
Dicte drehte das Glas in der Hand hin und her, während in ihrem Inneren Bildsequenzen von der Explosion auftauchten. Die Detonation, die Panik, die in Sallings Café ausgebrochen war, das Gefühl, allein zurückgelassen zu werden in einer Welt aus Chaos.
Die Tabletten klapperten, als sie den Behälter öffnete, um ihre Tagesration zu entnehmen. Sie fischte eine einzelne Tablette heraus und ließ sie in ihrer Handfläche liegen, während sich das Gefühl verstärkte, von der Umwelt isoliert zu sein, nicht im selben Maße reagieren und fühlen zu können wie die anderen. Es war, als würde sie in einer Glasglocke durch die Welt laufen, in der die Freude freudlos und die Sorge sorglos war.
Sie haben aller Wahrscheinlichkeit nach eine kleine Depression, die durch irgendein Ereignis von außen ausgelöst worden ist. Die Worte des Arztes hatten in ihr zuerst Protest ausgelöst. Aber nach einer Weile hatte sie keine Kraft mehr gehabt und endlich die Diagnose akzeptiert. Angeblich war es eine verspätete Reaktion auf die sich überstürzenden Ereignisse und das juristische Nachspiel ihrer letzten Geschichte. Ihre Handlungenhatten zwar keine Konsequenzen für sie, das Gericht rechtfertigte ihre Freisprechung mit dem Notwehrparagraphen. Aber das war das Urteil des Systems und weniger ihr eigenes.
Schuldig?
Sie fixierte den Blick auf die kleine Tablette in ihrer Handfläche.
Auf jeden Fall nicht vollkommen unschuldig. Nicht befreit von dem unsicheren Gefühl, zu weit gegangen zu sein, sich selbst zum Richter und Henker ernannt zu haben. Sie hatte es getan, um einem anderen Menschen das Leben zu retten, ja genau, und sie hatte sich damals damit verteidigt und tat es auch heute noch. Aber sie musste auch mit der Tatsache leben, dass sie etwas genommen und ausgelöscht hatte, was ihr nicht zustand. Dafür war ihr eine Diagnose gegeben worden – eine Vorgehensweise, die sich diese Gesellschaft angewöhnt hatte. Einfach einen Aufkleber drauf, damit wir uns sicher fühlen und damit umgehen können. Damit wir in irgendeine Schublade passen, der eine mit seiner Depression, der andere mit sozialer Phobie, der dritte mit einer Sonderform des Autismus, dachte sie. Schubst uns herum, wie Figuren auf einem
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