Rachlust - Dicte Svendsen ermittelt
Geheimnisse kannte.
KAPITEL 26
Es war nicht weit dorthin. Nur zwei Minuten von der Redaktion, eigentlich hatte sie schon viel früher gehen wollen. Aber sie hatte keine Kraft gehabt, das riesige Loch in der Häuserfassade anzusehen und sich an die Minuten der Gewissheit zu erinnern, dass Ida Marie dort in den Ruinen gelegen hatte. Ida Marie und ihr ungeborenes Kind.
Das Unglück war nicht eingetreten. Zumindest kein Unglück mit Ida Marie als Hauptperson. Aber ein abgewendetes Unglück war nicht gleichbedeutend mit Glück. Es war unheimlich, wie schnell man sich daran gewöhnte, dass fast alles so war wie zuvor.
Undefinierbarer Baulärm bildete eine Art Hintergrundmusik beim Anblick des verrußten, abgestützten Gebäudes. Sie sahWagner in Begleitung von Lena Lund den Tatort in der Østergade in seinem schwarzen Passat verlassen. Das Gefühl, das sich tief in ihrem Inneren meldete, erinnerte sie bedenklich an Eifersucht. Fachlicher Natur natürlich, beruhigte sie sich. Ihr gefiel es gar nicht, dass Lena Lund die Ermittlungsarbeit und Wagners Aufklärungsprozess aus nächster Nähe verfolgen konnte. Es gefiel ihr einfach nicht, dass diese Frau neben ihm im Auto saß und sein Vertrauen genoss.
So wie das rot-weiße Absperrband sie und andere Zivilisten vom Tatort fernhielt, stand Lena Lund praktisch buchstäblich zwischen ihr und Wagner und versperrte ihr den Zugang. Sie hatten bisher immer eine irgendwie geartete Zusammenarbeit gehabt, aber auf der letzten Pressekonferenz hatte er abwesend und abweisend auf sie gewirkt und ihr kein einziges Mal in die Augen gesehen. In der Regel hatten sie gegenseitig Nutzen voneinander. Aber sie hatte das ihr so vertraute Wohlwollen nicht entdecken können. Auf der anderen Seite hatte sie auch keine Neuigkeiten geliefert. Vielleicht war sie ja Teil des Problems. Seit langem hatten sie nicht viel mehr als formellen Kontakt gehabt. Und ihre Entdeckung auf Facebook hatte sie auch nur mit Bo geteilt. Sie hatte Ida Marie gegenüber kein Wort über Peter Boutrup geäußert, ihre Freundin hatte keine Ahnung, wer das war.
Auch Wagner wusste nichts von Peter Boutrup. Er hatte keine Ahnung, dass er existierte. Er wusste also auch nicht, dass er Dictes Sohn war. Und so war es ihr im Moment auch am liebsten. Sie sah keine Veranlassung, herumzuerzählen, dass ihr Sohn, den sie als Säugling zur Adoption freigegeben hatte, wieder aufgetaucht war, nachdem er für Totschlag im Gefängnis gesessen hatte. In ihrem Leben gab es genügend Missverständnisse und Fehlschläge, um eine ganze Tafel vollzuschreiben, warum sollte sie die allergrößte Niederlage lautstark verkünden?
»Geht es Ihnen wieder besser?«
Die Stimme kam von hinten. Sie drehte sich um und sah in die freundlichen Augen eines beleibten Handwerkers in einemweißen Overall über einem dicken, dunkelblauen Sweatshirt. Er hatte eine Zigarette in der Hand und nahm einen tiefen Zug.
»Ich erinnere mich an Sie. Ihnen ging es gar nicht gut an dem Tag.«
Er nickte zur anderen Straßenseite hinüber. Da erkannte sie ihn wieder, er war der Bauarbeiter, mit dem sie zusammengestanden hatte, als die Feuerwehrleute die Tote gefunden hatten.
»Ja, danke, ganz gut.«
Hinter ihm erhob sich das Gerüst, das nach wie vor mit Plastikfolie verkleidet war, die im Wind flatterte. Einer seiner Kollegen stand weiter oben auf einer Plattform und reinigte die gelben Backsteine mit einem Sandstrahlgebläse. Das war der Baulärm, der die Straße erfüllte.
»Sie war ein süßes Mädchen«, sagte er unvermittelt.
Dabei betrachtete er gedankenversunken das zerstörte Gebäude.
»Es ist eine Schande, dass so etwas passiert ist«, fügte er hinzu.
Plötzlich schoss ihr ein Gedanke durch den Kopf.
»Haben Sie eigentlich auch schon mit der Polizei gesprochen? Die sind doch bestimmt überall herumgelaufen und haben die Leute befragt?«
Er schüttelte den Kopf.
»Wir waren noch auf einer anderen Baustelle, die zuerst fertig werden musste. Oben am Marselis-Boulevard. Wir sind erst heute wiedergekommen. Die melden sich bestimmt bei uns, wenn sie etwas wissen wollen.«
»Aber Sie haben doch nichts Besonderes gesehen, oder? Ich meine, an dem Tag selbst?«
Sie hörte, wie neutral ihre Stimme dabei klang.
Er nahm einen weiteren Zug von seiner Zigarette. Dicte konnte förmlich sehen, wie er den Rauch bis tief in die Lungen einatmete, eher er ihn wieder ausstieß. Er hielt die Zigarette von sich weg und musterte sie.
»Eigentlich sollte man ganz damit
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