Rachlust - Dicte Svendsen ermittelt
nicht mehr gesehen hat.«
»Und was hat sie noch erzählt?«, fragte Wagner.
Ivar K versuchte, mit seinem Nikotinkaugummi eine Blase zu machen, aber das gelang ihm nicht wirklich.
»Sie beteuerte mir gegenüber, wie furchtbar tragisch das alles sei. Das Schicksal der ganzen Familie sei furchtbar tragisch. Sie hatte Glück. Natürlich trägt sie die Erbanlage in sich und hat sich darum auch gegen eigene Kinder entschieden. Aber ganz augenscheinlich leidet sie unter einem großen Schuldgefühl und hat Zeit ihres Lebens das Bedürfnis gehabt, sich von Krankheit und Tod zu distanzieren.«
Eriksen nahm einen Schluck Kaffee und schlürfte vernehmlich.
»Das kann man eigentlich ganz gut verstehen.«
»Sie hat alles einfach verdrängt«, warf Lena Lund kühl ein. »Sie ist geflohen.«
Ivar K ignorierte ihre Bemerkung.
»Adda Boel war sehr engagiert und Vorstandsvorsitzende des dänischen Landesverbandes für die Bekämpfung des Alpha-1-Antitrypsin-Mangels, der wiederum Teil eines Dachverbandes ist, in dem mehrere, sogenannte seltene Krankheiten vereint sind.«
»Was gibt es noch?«, fragte Wagner. »Freunde, Nachbarn, Netzwerke, mit denen wir in Kontakt treten sollten?« Ivar K legte seine Hände auf die Aufzeichnungen.
»Da ist nicht viel. Sie muss sehr einsam gewesen sein. Ein Nachbar gab an, dass sie erst seit etwa einem Jahr in der Østergade wohnte. Seinen Angaben zufolge war sie unauffällig, nett und leise.«
Wagner ließ die Worte unkommentiert im Raum stehen. Unauffällig, nett und leise. Warum musste sie sterben?
»Wo hat sie denn vorher gewohnt?«, fragte Eriksen.
»In einer Wohnung im zweiten Stock ohne Aufzug in der Læssøesgade, aber sie kam nicht mehr die Treppen hoch. Wie wir alle wissen, verfügte das Haus in der Østergade über einen Aufzug.«
»Okay«, sagte Wagner. »Haben wir schon mit dieser Organisation gesprochen? Alpha-1?«
Jan Hansen nickte, sein Kaffeebecher schwebte irgendwo zwischen Tischplatte und Mund.
»Ich habe mit ein paar Vorstandsmitgliedern gesprochen, aber ohne weitere Ergebnisse. Sie beschreiben sie als fleißig und engagiert, allerdings haben sie auch erzählt, dass sie zunehmend geschwächter von ihrer Krankheit war. Sie hat viel gekämpft, sich auch an die Presse gewandt, um die Freigabe eines bestimmten Medikaments zu erreichen.«
»Eines, das hilft?«, fragte Eriksen.
Hansen strich sich mit der Hand über den Kopf, auf dem sich aus der ehemaligen Glatze eine Igelfrisur entwickelt hatte.
»Kann sein. Im Ausland wird es offensichtlich schon eingesetzt. Aber genau genommen … die Krankheit ist so selten, dasskein Pharmakonzern Geld in die Forschung steckt. Es lohnt sich ganz einfach nicht, eine Medizin für so wenig Erkrankte herzustellen.«
»Könnte einer aus diesem Kreis, in der Organisation ein Motiv gehabt haben, Adda Boel umzubringen?«, fragte Wagner seinen Kollegen.
Jan Hansen schüttelte den Kopf.
»Das kann ich mir nur schwer vorstellen. Sie war beliebt, beharrlich, aber wie ich bereits sagte, schon ziemlich geschwächt.«
Er sah die anderen an und wusste, was sie dachten. Sie wäre so oder so bald gestorben. Warum sollte jemand sie umbringen wollen?
»Wir müssen uns wohl oder übel auf die Vergewaltigungstheorie konzentrieren«, entschied er. »Es deutet alles auf Totschlag im Affekt hin. Unter Umständen kannte sie den Täter, aber aller Voraussicht nach war die Tat nicht geplant.«
»Yes!«
Lena Lund hatte die Faust in die Luft gestreckt. Etwas in Wagner protestierte.
»Wir sind hier nicht beim Handballspiel.«
Er hatte kaum die Worte ausgesprochen und die Auflehnung in ihrem Blick gesehen, als sein Handy klingelte. Paul Gormsens Stimme war wie Balsam für seine Seele.
»Wir haben ihn. Wir haben das DNA-Profil entschlüsselt. Treffer!«
»Habt ihr einen Namen?«
»Jepp, den haben wir.«
KAPITEL 25
Nie wieder. Nie wieder. Nie wieder.
Der Punchingball gab bei jedem Schlag nach. Francesca konnte nicht aufhören, das Leder mit Schlägen zu traktieren. Der Schweiß lief ihr über Stirn und Rücken. Sie verausgabte sichso, damit die Gedanken über den Artikel und über die Gegendarstellung, die sie veröffentlichen musste, in eine hintere Ecke ihres Bewusstseins geboxt wurden. Für eine kurze Zeit nur an die Peripherie verdammt, während ihr ganzer Körper bei jedem Schlag erzitterte.
Nie wieder.
Sie presste die Kiefer fest aufeinander, während sie den Punchingball auf seinen Platz verwies. Er war ihr unsichtbarer Feind. Der Absender der
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