Rachlust - Dicte Svendsen ermittelt
Entlassung und euren Plänen.«
Glänzende Augen sahen ihn an. »Er dachte ja die ganze Zeit, dass du noch dabei bist. Du warst sein verficktes Vorbild.«
Das war ein Vorwurf, aber den konnte er wegstecken.
»Er hatte mich in Horsens besucht, zwei Tage vor meiner Entlassung. Wollte, dass ich mitmache, hatte aber überhaupt keinen richtigen Plan. Da wusste ich nicht, dass er schon von hier abgehauen war, davon hat er nichts erzählt.«
My und Lulu starrten ihn an. Sogar der Hund fixierte ihn mit den Augen.
»Ich bin nicht mehr so wie früher.«
Er streichelte den Hund, in der Hoffnung, wenigstens von ihm ein wenig Solidarität zu erfahren. »Vier Jahre hinter einer Tür ohne Klinke. Da hat man viel Zeit, nachzudenken.«
Lulu zog die Augenbrauen zusammen und wischte sich Tabak aus dem Mundwinkel.
»Ja, das hat man wohl.«
»Nicht wohl. So ist es. Mir ging es so. Und das Fazit davon ist, dass das Leben zu kurz ist.«
Er holte tief Luft und sehnte sich zurück in den Wald mit der frischen Luft, statt Lulus Rauch einzuatmen. Er sehnte sich nach den Bäumen und dem Lichtspiel zwischen den Stämmen. Und der Dunkelheit, die sich am Abend über alles senkte.
»Das Fazit ist, dass ich nicht länger mit dabei bin.«
Er senkte den Blick und sah auf seine Hände, die den Hund streichelten. Er wusste, dass er diesen Satz korrigieren musste, obwohl er diese ganze Situation unerträglich fand. »Das Fazit
war,
dass ich schon lange nicht mehr mit dabei
war
.«
Er ließ den Hund los und breitete die Arme aus.
»Und dann ist das alles passiert!«
In seinem Kopf türmten sich die Einzelheiten zu einer explosiven Mischung auf: Adda, das Solarium, Mys Erscheinen und Catos Verschwinden. Und jetzt noch die Tatsache, dass nach ihm gefahndet wurde.
Lulu lächelte.
»Und jetzt wirst du gezwungen, dich wieder mit etwas zu beschäftigten, dem du eigentlich den Rücken kehren wolltest?«
»Ja, so in der Art.«
»Hast du wirklich geglaubt, dass das einfach so geht? Sich abwenden? Euren gemeinsamen Plänen und Versprechen den Rücken kehren?«
Für seinen Geschmack wusste sie entweder zu viel, oder sie bluffte gut. Er versuchte, gleichgültig auszusehen.
»Das hat unsere Vergangenheit zerstört. Soll es jetzt auch noch unsere Zukunft zerstören dürfen?«
Wortlos sah sie ihn an, aber er konnte ihre Gedanken lesen. Sie machte ihm Vorwürfe. Weil er als Einziger von einer Zukunft sprechen konnte. Die anderen hatten keine. Nicht mehr.
KAPITEL 30
»Im Kreisverkehr nehmen Sie bitte die zweite Ausfahrt.«
Dicte lenkte ihren Fiat, wie ihr geheißen wurde. Die GPS-Dame schien sich ihrer Sache sicher zu sein, aber es half ihr nicht viel. Dicte verfuhr sich trotzdem, musste umdrehen und zurückfahren, bis sie endlich die richtige Abfahrt ins Stadtzentrum von Ry fand.
Zentrum war vielleicht ein bisschen zu hoch gegriffen. Ry war ein winziges Städtchen, das von den Seen Knudssø, Ramsø, Rye Mølle Sø und dem Großen Mossø umgeben war, Letzterer der zweitgrößte seiner Art in Dänemark. Mit seiner umwerfend schönen Natur, sanften Hügeln und den schönen Tälern verlieh es dem Begriff »Provinzloch« eine vollkommen neue Dimension. »Atemloch« war angemessener, wie eine grüne Lunge lag es da, und wäre sie besserer Laune gewesen, hätte sie diesen Ausflug bestimmt genossen.
Aber die hatte sie nicht, und darum genoss sie ihn auch nicht. Sie parkte neben dem Bahnhof, schnappte sich ihre Tasche und steuerte die Hauptstraße hinunter direkt auf das Ry-Park-Hotel mit seiner dominanten roten Fassade zu. Sie schob die Eingangstür auf, trat an die Rezeption und kam sich vor wie ein Idiot in einem schlechten amerikanischen Film, als sie sich zwang, das Foto aus der Tasche zu holen und es auf den Tresen zu legen.
»Ich weiß, dass es sich merkwürdig anhört«, sagte sie der jungen Frau an der Rezeption. »Aber ich suche jemanden. Und zwar ihn hier.«
Die junge Frau musterte erst sie, dann das Foto. Dicte kam der Gedanke, dass die Frau ihr Gesicht aus der Zeitung kannte. Schließlich war ihr Porträt so häufig abgebildet gewesen, dasssogar ein so junger Mensch sie mittlerweile einmal zu Gesicht bekommen haben konnte. Innerlich hoffte sie, dass dem nicht so war.
Die junge Frau schüttelte den Kopf. Sie hatte ein rundes Gesicht und dicke Lippen, die sie beim Sprechen sehr bedächtig bewegte, als würden sie stören.
»Wer ist das? Ist er aus dem Gefängnis geflohen?«
»Die Polizei fahndet nach ihm.«
Wegen Mordverdachts, wollte
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