Rachlust - Dicte Svendsen ermittelt
Mys Mund kam.
Sie wurden durch den Flur in einen kleinen Raum geführt.
»Miriam ist in der Klinik. Sie kommt bald.«
Als Lulu das sagte, spielte die Türglocke die erste Strophe eines alten deutschen Schlagers, dessen Titel sich im Nebel der Geschichte verlor, so wie auch Lulus Herkunft. Deutsch war sie, ja, aber woher stammte sie, und wie war sie hierhergekommen? Aber was sollte daran schon spannend sein? Sie hatte Cato aufgenommen, als ihn niemand wollte. Sie hatte ihm ein Zuhause gegeben, diese Wohnung in der Anholtsgade, und ihn mit Gratissex und freier Kost und Logis am Leben gehalten. Bis zum heutigen Tag.
Lulu ließ sie stehen. Im Flur hörten sie die Stimmen. Lulus rauchige Frauenstimme und die Stimme des männlichen Kunden, ein leiser, vorsichtiger Sopran. Kurz darauf hörten sie die dazugehörigen Geräusche aus dem Schlafzimmer. My sah aus, als wäre sie taub geworden. Oder, dachte er, sie war im Laufe der Monate abgestumpft, in denen sie sich durchgeschnorrt hatte und hier und da auf einem Sofa mit Kaj hatte schlafen dürfen. Sie schnappte sich eine Zeitschrift, er ging ins Badezimmer. Dort stand tatsächlich genug Zeug herum, mit dem man sich alle möglichen Haare entfernen konnte, elektrisch und manuell. Er starrte sein Spiegelbild an und sah einen Fremden. Lulu hatte recht gehabt. Die Haare mussten ab. Einmal den Schädel glattrasiert und den Bart gestutzt, der einen Großteil des Gesichtes bedeckte. Das war dringend nötig.
Der Kunde war bereits wieder gegangen, als er das Badezimmer verließ. Lulu sah frisch und sauber aus und strich ihm anerkennend über die Wange. Sie hatte nach ihrer Sitzung ein wenig Parfum aufgelegt.
»Stammkunde?«
Sie nickte. »Zweimal die Woche. Er ist immer pünktlich, weiß genau, was er will, und bezahlt, ohne zu meckern.«
»Klingt nach einem Traumjob. Ist er schon älter?«
»Das genaue Gegenteil. In den Dreißigern. So ein IT-Typ. Hat mir mal gesagt, er sei zu beschäftigt, um eine Freundin zu haben. Er hat es lieber unkompliziert.«
»Wo ist Cato?«
Lulu nahm ein altmodisches goldenes Feuerzeug vom Couchtisch und zündete sich eine Zigarette an.
»Zigaretten holen.«
Dann bekam ihre Stimme einen hellen, fast frechen Klang. »Camel«, fügte sie hinzu und warf My einen Blick zu, die wiederum ihren Hab-ich-doch-gesagt-Gesichtsausdruck aufsetzte.
Lulu ließ sich auf einen Sessel mit Blumenbezug fallen, schlug die Beine übereinander und wippte mit dem Fuß, der in den hochhackigen Pumps steckte. Sie war Anfang vierzig, sah aber aus wie eine künstlich gepflegte Granate mit straffer Haut und Kussmund. Nur ihre Augen sahen älter aus, sogar älter, als sie tatsächlich waren.
»Ganz ehrlich. Das ist jetzt zehn Tage her. Keine Erklärung. Gar nichts. Nur das mit den Zigaretten hat er gesagt, aber natürlich ist das irgend so ein kranker Witz von ihm.«
Er setzte sich neben My aufs Sofa, Kaj hatte es sich schon länger unter dem Couchtisch auf dem Teppich bequem gemacht.
»Und du hast seitdem nichts gehört? Weißt nicht, wo er sich aufhält?«
Sie schüttelte den Kopf und stieß gleichzeitig Rauch aus.
»Und als Nächstes fragst du bestimmt, warum er abgehauen ist.«
»Warum ist er abgehauen?«
»Rache«, antwortete My. »Der alte Traum von Rache. Der alte Plan von Gerechtigkeit.«
Gierig nahm Lulu einen Zug von ihrer Zigarette.
»Er hatte gerade einen Entzug gemacht und war seit Monaten clean.«
My rollte mit den Augen. Eine wortlose Geste, die mehr als deutlich davon erzählte, dass bisher jeder Entzug von Cato nur genau bis zur nächsten Flasche, der nächsten Tablette oder der nächsten Kippe gehalten hatte.
»Und ob er durchgehalten hat«, sagte Lulu mit Nachdruck und öffnete für einen kurzen Moment die Tür in ihr privates Seelenleben einen Spaltbreit. Aber sie hatte jahrelange Übung darin, diese Türen schnell wieder zuzuschlagen, und das tat sie dann auch. »Es lief alles super. Morgens stand er auf, las Zeitung oder sah fern und half, so gut er konnte. Er ging einkaufen oder setzte sich unten ins Café am Mølleparken, trank Kaffee und aß was Süßes und kam dann spät am Nachmittag zurück.«
Nachdenklich betrachtete sie den Rauch ihrer Zigarette, der zur Zimmerdecke zog. Hatte sie Cato wirklich geliebt? Ganz bestimmt. Cato hatte die ungewöhnlichsten Typen von Frauen angesprochen, Lulu war in vielerlei Hinsicht der mütterliche Typ.
»Und dann, eines Tages …?«
»Ja, eines Tages fing er an, von dir zu sprechen, von deiner
Weitere Kostenlose Bücher