Radegunde von Thueringen
Besa begrüßt, Sebila stand in der Tür und ließ ein vieldeutiges Knurren vernehmen. Lediglich Chlotberga fiel mit einer Schimpftirade über sie her.
Sie sah sich unbeeindruckt um. „Wo ist Bertafrid?“
Betretenes Schweigen breitete sich aus. Sie fühlte, wie ihre Knie nachgaben, und tastete nach Agnes’ Arm.
„Wo ist mein Bruder?“
„Er wurde nach Athies gebracht!“ Sigimer antwortete ihr mit ruhiger Stimme.
„Aber warum?“ Plötzlich begriff sie. „Ihr benutzt ihn als Geisel!“
Sigimer zuckte die Schultern. „Wenn du es so sehen willst. Doch du wirst ihm bald folgen, sorge dich nicht.“
Die folgenden Tage verliefen beinahe im gewohnten Trott, so, als hätte es den Fluchtversuch nicht gegeben. Doch fiel ihr auf, dass die Wachen am Tor verstärkt worden waren. Chlotberga und Fleda leisteten ihr abwechselnd Gesellschaft, selbst im Unterricht saß immer eine der beiden Frauen neben ihr und stickte. Weder Besa noch Agnes durften den Hof verlassen, die Kinder wurden von Gunda auf den Hof gebracht.
„Werdet Ihr weggehen?“, fragte das Mädchen nach dem Essen, kurz bevor sie zurück ins Dorf musste.
„Ja, Gunda. Ich gehe nach Soisson, an den Königshof.“ Sie versuchte, ihrer Stimme einen neutralen Klang zu geben.
„Was wird dann aus uns?“
„Ich denke, für euch wird sich nicht viel ändern. Was meinst du, willst du den Zählunterricht übernehmen? Du bist die Schnellste von allen!“
Gundas Augen leuchteten kurz auf. „Und wer liest uns vor?“
„Ich werde Bischof Athalbert fragen. Nächstes Jahr kannst du es vielleicht auch schon gut genug.“ Sie strich dem halbwüchsigen Mädchen übers Haar.
„Nächstes Jahr werde ich zehn, dann muss ich arbeiten!“
„Ich weiß. Aber die Betreuung der Kinder ist auch eine Arbeit. Ich will sehen, was sich machen lässt.“
Der August brachte drückend heiße Tage. Das Korn reifte auf den Feldern und bereitete den Bauern Hoffnung auf eine reiche Ernte. Aus Soisson kamen keine Nachrichten, und die Sorge um Bertafrid hing wie eine dunkle Wolke über ihrer Seele.
Am Tag des heiligen Lambertus war die Hitze besonders groß. Erst als die Schatten länger wurden, gab es eine leichte Abkühlung. Radegunde grübelte mit Agnes an der Übersetzung eines lateinischen Textes über die frühe Geschichte der Stadt Rom.
Fleda saß am Fenster und fächelte sich mit gelangweiltem Gesichtsausdruck Luft zu. Plötzlich sprang sie auf und lehnte sich aus dem Fenster. „Ein vornehmer Reisewagen mit großer Eskorte!“, posaunte sie.
„Sieh an, sie redet mit uns!“, stichelte Agnes.
Radegunde ließ die Feder sinken, sie war blass geworden. Sie traten hinter Fleda ans Fenster.
Der Wagen rumpelte vor die Tür des Hauses. Die Soldaten des Begleitschutzes saßen ab und sahen sich nach Pferdejungen um. Eine junge Frau sprang aus dem mit hellem Stoff bespannten Gefährt.
„Wer ist das?“, fragte Radegunde gespannt.
„Woher soll ich das wissen?“, antwortete Agnes.
Die Frau half einer alten Dame beim Aussteigen, die sichtlich Mühe hatte, die kleine Leiter herabzuklettern. Als sie es endlich geschafft hatte, stützte sie sich schwer auf einen Stock und humpelte auf die Treppe zu.
„Chrothilde!“, riefen Agnes und Fleda gleichzeitig.
‚Chlothars Mutter!‘, dachte Radegunde. ‚Was kann das bedeuten?’
Das Abendessen in der Halle fand in selten ruhiger Stimmung statt. Die Gäste waren müde und aßen wenig. Chlotberga versuchte mehrmals, ein Gespräch mit der Königsmutter zu beginnen, doch die weißhaarige Dame war sehr einsilbig. Als älteste und edelste unter den Tischgästen hob sie die Tafel frühzeitig auf.
Am nächsten Morgen schüttelte Bischof Athalbert den Kopf, als Radegunde zum Unterricht erschien. „Du sollst zu Frau Chrothilde kommen, sie erwartet dich in ihrem Gemach!“
Sie warf Agnes einen ratlosen Blick zu und ging, Fleda im Schlepptau. Der Gästeraum lag am anderen Ende des Hauses. Zögernd klopfte sie an die Tür.
Die junge Dienerin öffnete und ließ sie ein. Chrothilde saß auf einem bequemen Stuhl am Fenster, eine bunte Decke aus Katzenfellen lag auf ihren Knien. Mit aufmerksamem Gesicht sah sie Radegunde entgegen. „Komm zu mir, Mädchen!“
Sie verbeugte sich. Auch wenn Chrothilde keine Königin mehr war, wusste sie ihrem Gegenüber Ehrfurcht abzuringen.
„Lasst uns allein!“ Ein strenger Blick ging hinüber zu Fleda und ihrer Dienerin.
Fleda zögerte. „Aber …“
„Habe ich mich undeutlich ausgedrückt? Du
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