Radegunde von Thueringen
„Mein einziger Trost ist, dass ihr beide hier zusammenbleibt. Passt auf euch auf!“ Sie war den Tränen sehr nahe, aber sie beherrschte sich.
Gegen Mitternacht schlichen sie zum Tor.
Bertafrid polterte an die Tür des Wachhäuschens. „He, Sigwart, mein Freund Sigibald will mir nicht glauben, dass ein Pfeil am weitesten fliegt, wenn man den Bogen schräg nach oben hält!“
Der Wächter erhob sich von einer Bank unter dem Fenster. „Was wollt ihr um diese Zeit noch hier?“
„Zeig Sigibald, wie du den Bogen hältst!“
Der Soldat schüttelte den Kopf, ging aber doch nach hinten, um seine Waffe zu holen. Radegunde und Agnes huschten zum Tor, öffneten es in Windeseile und verschwanden in der Dunkelheit. Sigibald verriegelte es hinter ihnen. Als Sigwart zurückkam, hörten sich die Jungen mit Unschuldsmienen einen längeren Vortrag über die exakte Haltung des Bogens an.
Radegunde und Agnes liefen den Pfad entlang, der direkt zum Wald führte. Der helle Sandboden war selbst im Dunkeln gut zu erkennen. Als die Bäume dichter standen, fassten sie sich an den Händen, um nicht über die tückischen Baumwurzeln zu stolpern. Erst tief im Wald wagten sie, eine Fackel zu entzünden. Am Ende des Weges leuchtete endlich ein schwaches Licht zwischen den Baumstämmen hindurch. Es war die Kate des Köhlers, bei dem Bertafrid die Pferde untergestellt hatte.
Der Mann erwartete sie schon. „Bei dieser Dunkelheit könnt Ihr nicht reiten, Herrin. Die Pferde werden sich den Hals brechen!“
„Wir werden sie am Zügel führen! Morgen früh müssen wir ein gutes Stück weg sein!“
Der Köhler schüttelte missbilligend den Kopf, sagte jedoch nichts.
Er zeigte ihnen die Ausrüstung, die Sigibald hinterlegt hatte, und schlurfte zurück in seine Hütte. Sie schlüpften in die Männerkleidung, schnürten sich gegenseitig das feste Wams aus Leder und krochen in die Stiefel. Die hochgesteckten Haare verschwanden unter einfachen Helmen.
„Reib dir Erde ins Gesicht! Das sieht aus wie ein Bartwuchs!“, riet Agnes. In den Satteltaschen fanden sie etwas Proviant.
Dann zündeten sie eine zweite Fackel an und nahmen die Pferde bei den Zügeln. Bertafrid hatte zwei kräftige Soldatenpferde ausgesucht, die das Feuer nicht scheuten und auch sonst ruhig und ausgeglichen wirkten. Vorsichtig setzten die Tiere Huf vor Huf. Wenn ihnen etwas nicht geheuer vorkam, blieben sie einfach stehen. Es erforderte viel Geduld, sie zum Weitergehen zu überreden. Als sie endlich einen breiteren Weg erreichten, waren beide schweißgebadet.
Sie hatten lange überlegt, welcher Weg ins Gotenland der beste wäre. Schließlich hatten sie sich für die Route über Thüringen entschieden. Bertafrid hatte gemeint, dort würden sie in jeder Bauernhütte Hilfe erhalten, wenn sie sich als Geflohene zu erkennen gäben. Besa hatte ihnen geraten, auch in Thüringen niemandem zu sagen, wer sie wirklich seien. Ein hohes Lösegeld ließ manch armen Schlucker schnell zum Verräter werden.
Als der Morgen dämmerte, war der Wald noch immer nicht durchquert. Radegunde überlegte, wann ihre Flucht wohl entdeckt werden würde. Spätestens beim Frühstück würde Sebila nach ihnen fragen. Voller Selbstvorwürfe dachte sie an Besa. Hoffentlich setzten sie der Zwergin nicht allzu sehr zu. Und Bertafrid? Er war ihr in den letzten Monaten fremd geworden. Er hatte seine eigenen Pläne entwickelt. Sie schüttelte die quälenden Gedanken ab und konzentrierte sich wieder auf den Weg.
Der Himmel vor ihnen färbte sich rosa. Sie saßen auf und ritten im Schritttempo, bis der Wald sich vor ihnen lichtete. Nun wagten sie einen Galopp, der Weg führte über karges Grasland mit kleineren Büschen. Die Sonne kletterte eilig über den Horizont und schien ihnen ins Gesicht. Sie ritten schnurgerade durch eine grasbewachsene Senke und folgten dann einem kleinen Flüsschen. An ihm sollten sie sich bis zum Abend orientieren, hatte Sigibald ihnen eingeschärft. Ein kleines Dorf mussten sie passieren, aus dem die Bauern gerade auf die Felder zogen. Sie schoben ihre Helme tief ins Gesicht und ritten hastig vorbei.
Gegen Mittag suchten sie eine geschützte Wiese am Bach und saßen ab, um den Pferden eine Pause zu gönnen. Aus den Satteltaschen nahmen sie Brot und kleine saftige Pfirsiche.
„Ob wir morgen schon im Land der Chatten sind?“, fragte Agnes kauend.
„Das ist nicht zu schaffen. Übermorgen vielleicht, wenn wir uns nicht verirren.“
Sie übten sich darin, ihre Stimmen zu
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