Radikal
würde!
Sumaya blickte auf und stellte fest, dass sie direkt vor der Synagoge stand, dem einzigen Gebäude in der Oranienburger Straße, das sie schön fand. Sie kehrte um und ging auf die S-Bahn-Station zu. Wenn es nur etwas gäbe, das sie tun könnte, um Samuel aus dem Gefängnis zu holen! Sie war sich fast sicher, dass sie es tun würde, egal was es war.
***
Sie war dann doch noch nach Potsdam rausgefahren, auch wenn es sie zwei wertvolle Stunden kostete. Aber sie musste sicher sein, dass sie Utrecht trauen konnte, bevor sie Henk und Rieffen einweihte. Sie kam gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie ein orangefarbener Bagger mithilfe seiner zur Guillotine umfunktionierten Schaufel ein etwa anderthalb Meter hohes Stück der Klinkerfassade zerschlug und die Brocken anschließend auf einem grauen Kipplader ablud, der mit laufendem Motor danebenstand. Die Luft flirrte, vom See her wurde ein Schwarm winziger Mücken herübergetrieben, es staubte. Auf der anderen Seite des ehemaligen Gebäudes standendrei Arbeiter mit dicken Kopfhörern und einem Presslufthammer und rissen den Estrich auf.
Von dem alten Schulgebäude war nicht mehr viel übrig.
Also doch, hatte sie gedacht, obwohl sie in Wahrheit natürlich genau das erwartet hatte; aber es war eben etwas anderes, ob man etwas glaubte oder selbst in Augenschein nahm. Einer von Henks ewigen Glaubenssätzen.
Also doch.
Auf dem Weg zurück nach Berlin hatte sie sich gefragt, wie oft Samson in den drei Wochen seiner Infiltration wohl diese Bahn genommen hatte, um in seine Wohnung zurückzukehren, auf seinen Dachboden, zu seinen Recherchen und seiner dunklen Kunst.
Vielleicht hatten sie auf demselben Platz gesessen?
Sie war drauf und dran gewesen, sich nach ihm umzusehen.
Sie war aufgeregt.
Drei Stunden später, es war 19 Uhr am Mittwoch, hatte sie dann eine Regel gebrochen, die sie sich selbst irgendwann einmal auferlegt hatte, ohne einen bestimmten Grund, wenn sie ehrlich war, und mit Henk Lauter und Frederick Rieffen zum ersten Mal Kollegen in ihre Privatwohnung gebeten. Gerade wegen dieser Regel, die sie bisher ja immer befolgt hatte, war es wahrscheinlich eine gute Idee, ihr zweites Treffen hier abzuhalten.
Sie hatte sich vorgenommen, und wenigstens diese Abmachung mit ihr selbst dann auch tatsächlich eingehalten, sich durch eventuelle fragende Blicke ihrer Gäste nicht aus der Ruhe bringen und schon gar nicht dazu treiben zu lassen, sich zu rechtfertigen.
Ja , sie war ein Einzelkind reicher Eltern. Ja , ihre Eltern hatten ihr eine Wohnung im Prenzlauer Berg gekauft. Ja , sie war 160 Quadratmeter groß und uneingeschränkte Spielwiese eines avantgardistischen Innenarchitekten gewesen. Ja , sie hatte einen Garten, Designermöbel, eine Putzfrau und Fliesen aus echtem, mattem, edlem Granit.
Was sie trotzdem nicht hatte, waren Vorräte; weswegen sie beim Spätkauf nebenan Chips und Bier geholt hatte.
Sie hatten auf der Granitterrasse gesessen, die wie eine Zunge auf den Rasen im Innenhof hinausging. Sie hätten den riesigen blau-weiß gestreiften Sonnenschirm eigentlich einkurbeln können, aber Merle Schwalb hatte an Utrecht und seine Vorsichtsmaßnahmen gedacht, und es erschien ihr sinnvoll, etwas Unberechenbares zu tun oder jedenfalls etwas, das auf irgendeine Art und Weise Schutz verhieß, so wie man sich manchmal in einem Gewitter sicherer fühlte, wenn man seinen Haustürschlüssel in der Hosentasche umklammerte.
»Das ist jetzt nicht dein Ernst, Merle, oder?«, war Frederick Rieffens erste Reaktion gewesen.
Wie merkwürdig, dass man sich manchmal nicht einmal ansatzweise in andere hineinversetzen konnte, hatte sie gedacht. Wie merkwürdig, dass mir erst jetzt, in dieser Sekunde, klar wird, dass Henk und Frederick Samson ja gar nicht kennen. Und dass diese Geschichte, die ich ihnen gerade aufgetischt habe, für sie um ein Vielfaches unglaublicher sein muss, als sie es für mich schon ist.
Sie hatte ihnen alles erzählt: Dass es eine militante islamophobe Gruppierung mit dem Namen Kommando Karl Martell gab. Dass Samson sie unterwandert hatte. Dass Sinn ihm gegenüber zugegeben hatte, den Anschlag mithilfe von außen durchgeführt zu haben – und zwar mithilfe des »Sarazenen«, also wahrscheinlich von Khaldun Nabulsi, der seinerseits unter Benutzung des Namens seines getöteten Bruders Khaled den Sprengstoff erst gekauft und eingesetzt und dann mutmaßlich, unbewiesen, wahrscheinlich den Sprengstoff auf Samsons Dachboden platziert hatte, weswegen
Weitere Kostenlose Bücher