Radikal
hatten, war Merle Schwalb ihr noch einmal hinterhergelaufen.
»Wie geht es Samson?«, hatte sie leise gefragt, nachdem sie sie eingeholt hatte. Sumaya wusste, dass die Frage aufrichtig gemeint war.
»Er sagt, er wirkte einigermaßen gefasst«, hatte sie geantwortet. Ihr war Kais Deckname nicht sofort eingefallen. Aber wenigstens hatte sie nicht seinen richtigen Namen verraten.
Merle Schwalb nahm die Auskunft mit einem wortlosen Nicken zur Kenntnis. Sumaya wusste, dass es in Wahrheit gar keine Antwort war. Kai hatte ihr dasselbe gesagt, und sie hatte keine Ahnung gehabt, was sie sich darunter vorstellen sollte. Gefasst. Was hieß das? Dass er noch nicht angefangen hatte, mit dem Kopf gegen die Wand zu schlagen?
Merle Schwalb tat ihr leid. Aber sie selbst tat sich auch leid. Ya Allah, wann ist das alles endlich vorbei? Und was, wenn es nie vorbei ist? Nein, das wirst du mir nicht antun. Oder? Ich weiß, du bist zu allen Dingen fähig. Du bist zu allen Dingen fähig. Aber ich bin es nicht.
»Und es stimmt wirklich, dass Samson Mohammed Atta kannte?«, hatte Merle Schwalb leise nachgehakt.
»Ja.«
»Wieso hat er mir das nie erzählt?«
»Vielleicht erzählt er es Ihnen, wenn er draußen ist«, hatte sie geantwortet.
Merle warf ihr einen irritierten Blick zu.
»Entschuldigung, ich habe es wirklich ernst gemeint, überhaupt nicht böse. Ich finde bloß, dass er das selbst erzählen sollte, das ist alles.«
Gefasst. Gefasst . Er wurde gefasst. Er ist gefasst .
Ein bisschen Kraft brauchst du noch, Susu!
Halt durch!
Sie dachte an ihren Vater. An all seine Geschwister, Neffen und Nichten, die im Laufe seines Lebens verhaftet und festgenommen und interniert worden waren, im Gefängnis gesessen hatten, weggesperrt in irgendwelchen Gebäuden ohne Fenster, die von Militärfahrzeugen und Wachtürmen und Stacheldraht beschützt wurden, mit Anklage oder ohne Anklage oder mit falscher Anklage oder mit zutreffender Anklage auf der Grundlage falscher Gesetze. Sie erinnerte sich an die nächtlichen Anrufe, die er zu verheimlichen versucht hatte; an seine Machtlosigkeit und seine Schuldgefühle, weil er ihnen nicht helfen konnte.
Und nun hatte es Samuel getroffen.
Und sie war diejenige, die nicht helfen konnte.
Sie sah jene Cousins, Onkel und Großcousins aus Ramallah vor sich, von denen sie wusste, dass sie im Gefängnis gewesen waren. Einige waren danach aggressiver geworden, oder ein bisschen merkwürdig. Andere aus für sie unerfindlichen Gründen sanfter. Manche auch alles zugleich. Wie es wohl Samuel ergehen würde? Sie wusste, dass sie ihn sehr gerne mochte. Dass sie ihn wahrscheinlich sogar liebte. Aber in diesem Moment spürte sie, wie eine neue Art von Verbundenheit aufkeimte.
Woher kam dieses warme Gefühl?
Weil er jetzt auch ein Opfer war?
Sie schämte sich für diesen Gedanken. War das überhaupt ihr Gedanke? Oder noch so eine Sache, die man ihr eingeredet hatte, so wie man ihr eingetrichtert hatte, wie ein Terrorist auszusehen hatte? Es gab einen Satz, den ein rechter Kolumnist einmal in der Weltbild geschrieben hatte, und den sie nie wieder vergessen hatte, weil er ihr so wehgetan hatte: Die Palästinenser sind gerne Opfer, aber noch lieber sind sie Täter.
Sie war nicht gerne Opfer.
Niemand, den sie kannte, war gerne Opfer.
Es war etwas anderes.
Dass Samuel im Gefängnis saß, machte ihn nicht zum Ehren-Palästinenser.
Es war etwas anderes, etwas, das sich nicht so leicht fassen ließ.
Vielleicht: Wie es sich anfühlt, machtlos zu sein. Ausgeliefert. Das Gefühl, ohne es je gewollt zu haben, in einen unerbittlichen Kampf hineingezogen worden zu sein. Die Ahnung, wie wenig, wie wenig , man manchmal in seinem Leben selbst bestimmen kann. Und dass es schwer ist zu vertrauen, aber genau darum umso wichtiger. Weil sonst nämlich gar nichts bleibt.
Hatte sie ihm wirklich gesagt, es könnte peinlich sein, wenn er anfange, Arabisch mit ihr zu sprechen? Dass es nicht geplant gewesen sei, dass sie sich in ein Weißbrot verliebte? Hatte sie sich tatsächlich selbst gefragt, ob er sie je verstehen könnte? Klar, vielleicht würde er sie wirklich nie ganz verstehen. Na und? Wahrscheinlich konnte man sowieso überhaupt keinen anderen Menschen verstehen. Hatte sie das nicht gerade erst erfahren? Sie dachte an Fadi, von dem sie immer gedacht hatte, dass sie ihn verstehe und er sie, so wie keinen zweiten Menschen.
Sie vermisste Samuel so sehr, dass es beinahe schmerzte. Wie gerne sie ihm all das erklären
Weitere Kostenlose Bücher