Radikal
mussten ja das Foto raussuchen, schätze ich.«
»Sumaya, es ist nicht so, wie Sie jetzt vielleicht denken. Ich will Samson genauso helfen wie Sie.«
»Das hoffe ich.«
Merle hatte immer noch keine Ahnung, wer der Begleiter von Sumaya al-Shami war, als das Schiff sich in Bewegung setzte und ein aufgekratzter Student mithilfe eines Megafons die Passagiere herzlich willkommen hieß und ihnen zu erklären begann, warum der Schiffbauerdamm hieß wie er hieß, eine Information, die Merle Schwalb nicht gerade überraschte, und dann fortfuhr anzukündigen, an welchen Sehenswürdigkeiten vorbei ihre Route durch die historische und politische Mitte Berlins sie führen würde.
»Wer sind Sie?«, fragte Merle Schwalb.
»Ich bin ein sehr alter Freund von Samson«, antwortete Utrecht ruhig.
»Und was sind Sie außerdem?«
»Ich schätze, das muss reichen.«
»Und warum haben Sie mich angerufen?«
»Weil Samson mich darum gebeten hat. Ich habe ihn im Gefängnis besucht, und ich habe Informationen, die uns vielleicht helfen können, ihm zu helfen. Er vertraut Ihnen, also teile ich sie mit Ihnen.«
»Wie haben Sie es geschafft, ihn zu besuchen?«
»Ich habe mich als Anwalt ausgegeben.«
Als sie die Antwort hörte, fühlte Merle Schwalb sich bloßgestellt. Dumm und unnütz. Wieso war sie nicht auf diese Idee gekommen? Aber vielleicht war Utrecht ja auch irgendeine Art von Profi, jemand wie Samson selbst, der diese ganzen Tricks kannte oder sich ausdenken konnte und in vollkommener Ruhe Sätze sagen konnte wie: »Ich schätze, das muss reichen!« Etwas in ihr sträubte sich dagegen, dass sie nicht mehr über Utrecht erfahren würde. Aber sie nahm es hin. Utrecht hatte Informationen, endlich , und allein darauf kam es an.
Sie holte ihren Block heraus. Sofort merkte sie, wie Utrecht zuckte. Für einen Moment sah es aus, als wolle er den Kopf schütteln und sie bitten, den Block wieder verschwinden zu lassen. Stattdessen sah er sich jedoch kurz um und nickte dann knapp.
»Meine Damen, meine Herren, lehnen Sie sich zurück und genießen Sie unsere Reise!«, dröhnte es aus dem Megafon.
Exakt eine Stunde später legten sie an derselben Stelle wieder an, an der sie losgefahren waren. Merle Schwalbs zuvor praktisch leerer Block war halbvoll. Sie hatte Namen notiert, sie hatte Orte aufgeschrieben, sie hatte Verbindungen in Diagrammen voller Pfeile festgehalten. Sie hatte kaum gesprochen, sondern die meiste Zeit dem methodischen, absichtsvoll leisen Singsang Utrechts zugehört, zwischendurch auch Sumaya al-Shami, die ergänzte oder korrigierte,wenn es um etwas ging, das sie mit Samson gemeinsam erlebt hatte, Utrecht aber nur aus dessen Schilderungen kannte. Sie war froh gewesen, dass sie den Block benutzen durfte. Nicht nur, weil sie sich die Neuigkeiten so nicht alle merken musste, sondern auch, weil es ihr erlaubt hatte, sich auf eine ihr vertraute Art zu verhalten: Nachfragen zu stellen, systematisch Lücken zu schließen, und sich währenddessen ihre Gefühle nicht allzu deutlich anmerken zu lassen.
»Hier«, krähte der Student, als sie in kurzer Folge das Reichstagsgebäude und das Bundeskanzleramt passierten, »werden alle wichtigen Entscheidungen der Republik getroffen.«
Nein , dachte Merle Schwalb, während sie Utrecht zuhörte und Sinns Netzwerk in einer schnellen Skizze festzuhalten versuchte, das werden sie eben nicht .
»Und ungefähr auf dieser Höhe, meine Damen und Herren, etwa hundert Meter Luftlinie von hier, fand vor einigen Wochen der grauenhafte Terroranschlag statt, von dem Sie sicherlich gehört haben. Aber Gott sei Dank wurde ja mittlerweile der Attentäter festgenommen!«
Nein, das wurde er nicht , dachte Merle Schwalb, unterstrich den Namen Khaldun Nabulsi ein weiteres Mal und zog von dort eine Linie zu einem Kästchen, in das sie » XY , Sprengstoffkoch « geschrieben hatte.
Sie konnte nicht glauben, dass Samson das Kommando Karl Martell unterwandert hatte. Nein, anders : Sie konnte es glauben. Aber es war ihr unheimlich. Sie stellte sich vor, wie Samson sich erst in Potsdam eingeschlichen und später mit Sinn, Gisela Munkelmann und dem Baron zusammengesessen hatte. Sie schüttelte unwillkürlich den Kopf, während sie sich Samsons wochenlange Charade ausmalte, was ihr einen kritischen Blick aus Sumaya al-Shamis großen grünen Augen eintrug. Aber so war es nun einmal: Samson war verrückt. Verrückt – und unfassbar mutig. Warum tat er so etwas Waghalsiges? Weil er nicht anders kann. Weil er
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