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Radikal

Radikal

Titel: Radikal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yassin Musharbash
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Rieffen.
    »Haben Sie mal eine Sekunde darüber nachgedacht, was das für Samuel bedeutet? Richtig, Herr Dengelow und meinetwegen auch ihr Kollege wären am Arsch . Aber wissen sie was? Samuel auch! Die Staatsanwaltschaft wäre Ihnen noch dankbar dafür, dass Sie ihr die Identität des lang gesuchten Komplizen von Samuel Sonntag, dem Tarnkappen-Bomber, frei Haus liefern! Die Geschichte, die Sie aufschreiben wollen, entlastet Samuel nicht. Im Gegenteil: Sie bringt ihm mindestens fünfzehn Jahre Gefängnis!«
    Sumaya sah, dass Rieffen mit der Hand auf den Tisch hauen wollte. In seinen Augen funkelte blankes Unverständnis. Doch Henk Lauter legte ihm die Hand auf den Arm und hielt ihn zurück.
    »Herr Lauter«, fragte Sumaya ihn und griff nach dem Dokument auf dem Tisch, »das ist eine Kopie, nehme ich an?«
    »Selbstverständlich.«
    »Gut, danke.«
    Sumaya faltete die Papierbögen und steckte sie zu dem Foto von Khaldun Nabulsi in ihre Handtasche.
    »Was haben Sie jetzt vor?«, fragte Merle, als Sumaya ihren Stuhl zurückschob und aufstand.
    »Samuel raushauen, was denn sonst?«
    Als sie auf die Pappelallee hinausging, zitterte Sumaya am ganzen Körper, obwohl es noch immer sehr warm war. Sie wusste, dass es jetzt drauf ankam. Dass sie nur diese eine, einzige Chance hatte. Alles oder nichts.
    ***
    Er hätte nicht so viel Bier trinken sollte, hatte er gedacht, als er im Morgengrauen wach geworden war, weil er pinkeln musste. Er hatte sich aufgeschwemmt gefühlt und sogar ein bisschen verkatert. Er war zur Toilette gegangen, hatte eine Aspirin eingeworfen und danach, weil er ahnte, dass er sowieso nicht wieder würde einschlafen können, seine Laufschuhe rausgekramt und war losgelaufen.
    Das Laufen hatte ihm gutgetan, es war noch kühl gewesen, aber auf eine Art, die schon andeutete, dass es wieder sehr heiß werden würde. Die Frische und die Tatsache, dass niemand sonst unterwegs war, hatten ihm das Gefühl gegeben, dass er dem Tag schon etwas abgeluchst hatte, bevor er richtig begonnen hatte. Außerdem hatte er seine Runde trotz der vier Bier nur unwesentlich langsamer absolviert als sonst.
    Als er mit dem Duschen fertig war und sich gerade Frühstück machte, war Agnes in die Küche gekommen, und er hatte sie in den Arm genommen, was sich merkwürdig anfühlte nach den letzten anstrengenden Wochen und dem Kalten Krieg zwischen ihnen, aber sie hatte sich darüber gefreut, und er, wenn er ehrlich war, auch.
    Leo hatte er verpasst, der schlief noch, als er sich auf den Weg gemacht hatte.
    »Grüß ihn von mir, vielleicht können wir heute Abend grillen«, hatte er Agnes gebeten.
    »Da freut er sich sicher.«
    Ansgar Dengelow wusste nicht, warum sein Kopf gerade jetzt diese frühmorgendlichen Ereignisse Revue passieren ließ. Es hätte keinen unpassenderen Moment geben können, sich diesen Erinnerungen hinzugeben. Warum also erlaubte sein Geist es ihm nicht, sich auf das zu konzentrieren, worauf er sich jetzt konzentrieren musste? Musste , verdammt noch mal! Aber sein Hirn spielte ihm einen Streich nach dem anderen, oder besser gesagt: Es versagte ihm den Gehorsam. Warum, Hirn, warum? Weil es so ungeheuerlich ist, worum ich dich bitte?
    Doch kein Gedanke formte sich, mit dem er etwas hätte anfangen können. Anstatt sich zu konzentrieren, anstatt sich mit dem Unfassbaren zu beschäftigen, bestand sein Gehirn jetzt darauf, ihn auch noch durch den Rest des Vormittages zu führen, als sei das jetzt von Belang.
    Also sah er sich gegen seinen Willen selbst im Auto sitzen. Er sah sich selbst noch einmal die Treppen der JVA Moabit hinaufsteigen,seinen Ausweis vorzeigen, durch Türen und Gitter schreiten, der Kollegin zunicken, den amtlich gestrichenen Vernehmungsraum betreten. Er hatte sich gut gefühlt, nach dem Laufen und der Dusche und dem unfallfreien Dialog mit Agnes. Er hatte nicht viel von der Vernehmung erwartet, er rechnete nicht damit, dass Sonntag auspacken würde, aber es war eben wieder Zeit, so etwas dauerte. Er sah sich Fragen stellen und sah noch einmal Sonntags entrücktes Lächeln. Das Lächeln des lebenden Märtyrers, hatte er noch gedacht. Er hatte gesprochen, Sonntag nur gelächelt, die Kollegin nur getippt. Es war nichts passiert. Wieso also erinnerte er sich jetzt noch einmal an die Vernehmung vom Morgen? Weil sein Hirn ihn mit diesem Trick davon abhalten wollte, sich endlich mit dem zu beschäftigen, was direkt vor seinem Auge ablief?
    In der JVA gab es keinen Handyempfang, und darum hatte er erst

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