Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Radio Heimat

Radio Heimat

Titel: Radio Heimat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Goosen
Vom Netzwerk:
nickte mein Oppa nur, und beide freuten sich, dass sie sich mal einig waren.
    Nachdem Ali aufgehört hatte und man nur noch von ihm hörte, weil er Parkinson hatte, interessierten sich weder mein Vater noch mein Oppa weiter fürs Boxen. Mein Uroppa, der Vater meines Oppas, hatte auch Parkinson gehabt, und wahrscheinlich war das einfach zu nah dran. Das ging doch nicht, dass einer wie Ali die gleiche blöde Krankheit hatte, dass er genauso zitterte und sabberte wie mein Uroppa.
    Ich habe meinen Oppa mal gefragt, wieso Ali so toll sei, und mein Oppa sagte: »Weil er der Größte ist!«, und das hörte sich an wie etwas, bei dem man nicht weiter nachfragt.
    Ein einziges Mal nur bin ich morgens um vier aufgestanden, um mir einen Boxkampf anzusehen und herauszukriegen, wie das für meinen Vater gewesen sein müss. Es war der Kampf von Mike Tyson gegen einen der Spinks-Brüder, glaube ich jedenfalls. Mit Augenlidern dick wie Mandarinenschalen hockte ich vor dem Fernseher und hatte Mühe, wach zu bleiben. Der Kampf begann mit über anderthalb Stunden Verspätung. Und dann lief Spinks nach neunzig Sekunden in Tysons Faust und der Zauber war vorbei.
    Wenn Ali boxte, war mein Vater hellwach. Wenn es heute auf die Glocke gibt, schlafe ich einfach weiter.
     

Abschied von der Bimbo-Box
    Mein erster Schultag war der Tag, an dem ich mich von der Bimbo-Box lossagte.
    Am Morgen hockte ich mit meiner Mutter und meiner Schultüte in einer sehr vollen Aula. Um uns herum lauter andere Kinder und lauter andere Mütter, keine Väter. Ein großer Mann stand auf und ging nach vorne. Er war breit und hatte auf dem Kopf kaum noch Haare, aber der Kranz, der sich um seine Glatze zog, war tiefschwarz. Der Mann fing an zu reden. Er sagte, er sei der Rektor der Schule und sein Name sei Kind. Großes Gelächter.
    Ich sah mich um. Gleich neben mir saß ein ziemlich dicker Junge, der von seiner Mutter Rudi genannt wurde. Er war sehr dick. Seine Mutter trug alte, verblichene Sachen, und ihre Haare sahen aus, als würden Vögel drin wohnen.
    Sie hatte nicht viel Freude an ihrem Sohn. Trotz seiner für sein Alter kaum fassbaren Leibesfülle zappelte er herum wie ein Hamster unter Starkstrom, rutschte auf dem Stuhl hin und her und beugte sich immer wieder nach vorne, um in die Schultüte zu greifen. Die Schokolade hatte man ihm offenbar ganz ohne Verpackung in die Tüte gestopft, damit mehr hineinpasste. Vielleicht sollte er ja bis Weihnachten gemästet werden, damit die ganze Familie richtig was zu schlemmen hatte. Immer wieder verschwanden seine kurzen, fetten Finger im Dunkel der Tüte und kamen große braune Stücke umklammernd wieder hervor. Rudis Gesicht bekam dann etwas sehr Ernsthaftes, Konzentriertes, als sei der Drang, Schokolade zu vertilgen, eine heilige Mission. Es war seine Aufgabe, die deutsche Schokoladenindustrie vor dem Ruin zu retten. Er stopfte sich mehr von dem Zeug ins Maul als eigentlich möglich. Seine Backen blähten sich auf wie Ballons. Ich frage mich heute noch, wie er überhaupt zubeißen konnte, um die Brocken zu zerkleinern. Naja, vielleicht ließ er sie auch einfach im Mund schmelzen und schluckte sie dann hinunter wie sehr dicken Kakao. Seine Hände sahen aus, als habe er gerade ein stark verunreinigtes Klo gesäubert. »Als hätte er sich selbst in die Hand geschissen«, sagte meine Mutter, als sie es am Abend meinem Vater erzählte.
    Zwei Reihen vor mir saß Micha, der Popelfresser. Der hätte zusammen mit dem fetten Rudi als Vorher/Nachher-Models für eine besonders erfolgreiche Diät posieren können. Micha war dünn wie ein Streichholz und blass wie der Mond. Das Erste, was ich von ihm sah, war sein enorm langer, enorm dünner Zeigefinger, der immer wieder in eines seiner Nasenlöcher kroch, etwas Grünfeuchtes herausholte und zwischen den Lippen verschwinden ließ. Auch er war mit einem fast heiligen Ernst bei der Sache. Erging wahrscheinlich nicht zur Schule, um irgendwann Abitur zu machen, sondern um ungestört von seiner Mutter (die ihm immer wieder den Finger aus der Nase schlug) seine Nasenschleimhäute abzukratzen. Mir wurde schlecht. Ich hatte keine Lust mehr auf Schule.
    Der Rektor begrüßte uns, stellte dann die beiden Klassenlehrerinnen vor und teilte je zwanzig oder dreißig Kinder einer Lehrerin zu. Meine war groß und dünn, hatte lange braune Haare und trug eine weiße Rüschenbluse und einen langen blauen Rock. Meine Klasse war die »1a« und ich fand, damit war alles gesagt.
    Um den großen Tag

Weitere Kostenlose Bücher