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Radio Heimat

Radio Heimat

Titel: Radio Heimat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Goosen
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verschwamm. Endlich legte ich meine kaltschweißige Hand auf das kühle Metall, als mich die Stimme von Frau M. stoppte. Was will die Olle, dachte ich, ich habe keine Zeit!
    »Wo willst du hin?«
    Was für eine bescheuerte Frage, dachte ich noch, schoss ein »Na pinkeln!« in Richtung von Frau M., verließ das Klassenzimmer und wankte unter Schmerzen den Flur hinunter.
    Auf dem Rückweg musste ich zugeben, dass ich kein gutes Bild abgegeben hatte. Ohne ein Wort war ich aufgestanden und hatte mich auf diesen endlosen Weg zur Tür gemacht. Das musste auch eine erfahrene Lehrkraft skeptisch machen.
    Als ich, deutlich erleichtert, wieder neben Mücke saß, gab Frau M. der ganzen Klasse eine Aufgabe, die in Stillarbeit zu erledigen war, kam zu uns herüber und sagte: »Wart ihr bei Sigg- äh ... habt ihr Alkohol getrunken?« Mücke war wieder obenauf und konterte: »Nee, nur Bier!«
    Nach der Stunde setzte es ein paar mahnende Worte, aber damit hatte es sich auch. Heute würde man uns wahrscheinlich gleich ins Heim stecken. Wenn meine eigenen Kinder so was machten, würde ich sie im Keller einsperren.
    Morgens waren Schüler und Berufsschüler bei Siggi unter sich, abends war es bunt gemischt. Der war Der Blaue Klaus, der immer im Anzug neben der Vitrine saß und dessen Lieblingswort »notabene« war. Da war Dieter, der hochgewachsene Krankenpfleger. Da war Christian S., nur einige Jahre älter als ich, aber mit einer Vorliebe für Hans Albers. Und da war Der Kreismeister, der eigentlich Wolfgang hieß und einen Laden betrieb, in dem man Pokale kaufen und Gravuren anfertigen lassen konnte. Seinen Beinamen hatte er sich verdient, weil er stets den Ehrgeiz hatte, mit den Strichen einmal rund um den Bierdeckel herumzukommen. Allerdings soff er sich nicht allein einmal herum, sondern spendierte die eine oder andere Runde und verlor beim Würfeln. Manchmal sogar absichtlich, hatte man den Eindruck, um seinem Spitznamen gerecht zu werden.
    Wenn samstags die Sportschau lief, tat sich allerdings eine Kluft zwischen der Restkneipe und dem Kreismeister auf, war dieser doch ein glühender Anhänger der Borussia aus Mönchengladbach. Doch auch für die Spieler des VfL Bochum hatte er schon mal ein gutes Wort übrig. Nach einer besonders eindrucksvollen Parade des Bochumer Torhüters Ralf »Katze« Zumdick rief der Kreismeister Richtung Fernseher: »Ist die Katze gesund, freut sich der Mensch!«
    Das Würfeln: Wenn nicht Skat oder Doppelkopf gespielt wurde, wurde geschockt, vor allem am Tresen, drei Würfel im Lederbecher, drei Würfe. Mit neunundzwanzig Deckeln, inklusive reizen, also Contra (Deckelzahl verdoppelt), Re (verdreifacht) und Bock (vervierfacht). Verlor man also bei Bock gegen eine Schwule Jule (Eins-Zwo-Vier, brachte einem ohne alles sieben Deckel), konnte man auf einen Sitz achtundzwanzig Deckel vor sich liegen haben. Höher war nur Schock Aus (drei Einsen), bei dem man sich gleich alle Deckel greifen konnte, von den Mitspielern mit einem lauten »Schock aus! Schock aus! Schock aus, aus, aus!« kommentiert. Das Spiel wurde in zwei Hälften gespielt. Hatten beide unterschiedliche Verlierer, kam es zum Stechen. Der endgültig Unterlegene hatte eine Runde zu geben.
    Manchmal ging das sehr schnell, und man kam mit dem Saufen nicht nach. Dann stand schon mal Frau Wirtin daneben und sagte: »Watt soll datt denn werden? Biersuppe?«
    Da war es dann meistens schon ziemlich spät, sodass ihr All-Time-Klassiker nicht lange auf sich warten ließ. Ging es auf ein Uhr zu und es krallten sich noch ein paar Unentwegte am Tresen fest, hieß es: »Habt ihr eigentlich keine Betten zu Hause?«
    In seinen langen Jahren als Wirt hat Siggi eine Menge mitgemacht, deshalb brachte ihn so schnell nichts aus der Ruhe. Einmal hatte Mücke den Biersuppen-Vorwurf nicht auf sich sitzen lassen wollen und die abgestandenen Reste aus drei Gläsern sehr fix in sich versenkt, damit aber seinen Magen auf die Palme gebracht. Plötzlich wurde er kalkweiß, man konnte förmlich von außen sehen, dass sich Speichel in seinem Mund sammelte, was ja immer ein schlechtes Zeichen ist. Mücke sprang auf, der Stuhl fiel um. Mücke hastete zum Klo, riss die Tür auf und versuchte, mit geblähten Backen die Kabine zu erreichen, als es plötzlich mit Hochdruck aus ihm herausplatzte und sich über den ganzen Kachelboden verteilte. Der Kreismeister stand am Urinal und kriegte ein bisschen was auf die Hosenaufschläge. Jetzt ist Mücke geliefert, dachte ich, jetzt kriegt

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