Radio Heimat
Pinnchen andächtig zum Mund, lauschten eine Sekunde dem spärlichen Nachtverkehr auf dem Ostring und legten den Kopf in den Nacken. Ludger und ich gaben Geräusche des Wohlbefindens von uns, während der Brand sich die Speiseröhre hinunterarbeitete. Siggi betrachtete sein leeres Glas und sprach mit unbewegter Miene:
»Und verschwand in der Wand!« Da war die Welt aber mal so richtig in Ordnung.
Anfang der Neunziger haben Anni und Siggi sich zur Ruhe gesetzt. Der letzte Abend war aber noch mal ein Ausrufezeichen hinter einer bemerkenswerten Geschichte. Selbstredend platzte der Laden aus allen Nähten, sogar aus München und Berlin waren Menschen angereist. Frau Wirtin hielt sich tapfer, aber Siggi saß die meiste Zeit im Hinterzimmer, nahm Geschenke entgegen und kämpfte mit den Tränen.
Um halb zehn war das Bier alle. Klar, wir waren zum Restesaufen gekommen, aber halb zehn war doch noch keine Zeit! Thorsten, dessen Eltern ebenfalls eine Kneipe hatten, ging mit dem Hut rum, alle gaben reichlich, Thorsten rief den Großhändler an, und der lieferte kurzfristig noch einen Hektoliter. Das überzählige Geld wurde in das Spendenschiff der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger gestopft.
Am Ende bemühte man sich um Andenken. Christian S., der Albers-Fan, soll sich den alten Tresen in den Keller gestellt haben. Auch der Stammtisch hat, vielleicht in irgendeiner Schrebergartenlaube, eine neue Heimat gefunden. Ich weiß nicht, wer sich den Flipper und den Spielautomaten unter den Nagel gerissen hat, aber ich frage mich, wieso ich mir nicht wenigstens den Kondomautomaten gesichert habe. Das Einzige, was sich heute in meinem Besitz befindet, ist ein Jägermeister-Flaschen-Aufsatz.
Am Ende waren wir alle so schön blau, dass es zum Heulen war. Und das taten wir dann auch. Siggi drückte mir fest die Hand. Wortlos angesichts der Größe des Augenblicks. Frau Wirtin sprach ein letztes Mal: »Habt ihr eigentlich keine Betten zu Hause?« Dann stand ich in dem schweren, dunkelroten Filzvorhang und warf einen letzten Blick zurück. Der Flipper blinkte, der Automat spielte eine Melodie, die Basketballpokale grüßten. Nur die Vitrine war leer.
Und die leere Vitrine verfolgt mich. Manchmal, wenn wir bei uns im Wohnzimmer sitzen und Doppelkopf spielen, will ich am liebsten in die Küche rufen: »Siggi, mannoma vier Frikas, vier Mett, einen Jungferntraum und ne Runde Asbach!«
Manche Dinge ändern sich eben nie: Watt der Mensch braucht, datt musser haben.
Ungesunde Getränke
Kürzlich im Regionalexpress zwischen Bochum und Dortmund: Alle Wagen sehr voll, Platz finde ich nur noch ganz hinten, da, wo die Klappsitze sind und die Leute mit Fahrrädern. Drei Plätze sind besetzt: Eine Frau mit Haaren wie Hanf und kleinen Kopfhörern im Ohr. Daneben ein Junge in sackigen Blue Jeans und einem schwarzen T-Shirt, auf dem in verwelkenden Lettern der Band Sepultura gehuldigt wird. Neben ihm eine Tasche aus LKW-Plane. In der Mitte des Wagens ein dunkelhaariger Mittzwanziger in engen Radlerhosen und dem grünen Trikot des Erstplatzierten in der Sprintwertung, ein Erik Zabel mit Bauchansatz.
Sepultura nimmt eine Flasche aus der LKW-Plane und bietet sie Zabel an. Der will wissen, was drin ist. Keine Ahnung, meint Sepultura, aber auf jeden Fall sei es ungesund - für Zabel Grund genug, einen tiefen Schluck zu nehmen.
Ja, ja, der Mensch und seine Vorliebe für ungesunde Getränke. Zwischen Dorstfeld und Dortmund Hauptbahnhof hänge ich sentimentalen Gedanken nach. Da waren zum Beispiel die Weine, die Ivo und seine Brüder im Keller selbst herstellten, und zwar in den Geschmacksrichtungen Banane, Ananas und Kirsch. Wohlgemerkt: Weine! Die Weine der Brüder hatten nur eine einzige Aufgabe, nämlich Schmerz und Elend zu erzeugen, und diese Aufgabe erledigten sie mit Bravour. Wer mehr als ein Glas von diesem Zeug zu trinken imstande war, der fand es auch toll, beim Sex in einer Lederschaukel zu hängen und von einer sechzigjährigen Domina mit einem Nagelhandschuh verwöhnt zu werden.
Und doch gewinnen diese Fruchtweine nur die Bronzemedaille bei der Olympiade der ungesündesten Getränke, die ich in meinem Leben zu mir nehmen durfte. Silber geht an den Johannisbeer-Obstler, den ein wegen Körperverletzung vorbestrafter Busfahrer meinen Eltern in der Schrebergartenanlage in Wiemelhausen zum Geburtstag schenkte. Monatelang stand der bei uns im Kühlschrank unangetastet herum, und jedes Mal, wenn mein Vater die Tür öffnete und
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