Radio Heimat
der kurzen Wege.
Die Toiletten verzichteten auf Schnickschnack. Der Boden war rot-grau gekachelt, bei den Herren gab es zwei Urinale und eine Kabine. Die Damentoilette habe ich nie von innen gesehen. So was machte man nicht bei Siggi.
Unvergessen der Kondomautomat im Herrenklo, ein graues Teil aus den Fünfzigern, auf dem bis zuletzt der schöne Aufkleber prangte: »Neu in diesem Automaten! Amor Filigran! Mit zarten Perlnoppen!«
(Wem das bekannt vorkommt: Das habe ich schon mal verwendet, in der Geschichte »Siebzehn für immer, achtzehn bis ich sterbe«, aber es gehört hier einfach noch mal hin.)
Eine elektronische Kasse suchte man bis zuletzt vergeblich. Die verzehrten Getränke wurden mit einem dicken Bleistift in den Bierdeckel eingekerbt, ein Strich für ein kleines Pils, ein Kreuz für ein großes - immer noch die ehrlichste Art der Rechnung. Wie entwürdigend sind doch in modernen Kneipen diese Momente, wo die Servicekraft sich an den Tisch setzt und in stundenlanger Kleinarbeit aufzudröseln versucht, wer was verzehrt hat. In dieser Hinsicht ist analog nicht altmodisch, sondern vernünftig.
Ich kann mich nicht mehr genau an meinen ersten Besuch dort erinnern, aber ich fürchte, es war vormittags. Der Sportfreund öffnete damals bereits um acht Uhr, um jenen eine Heimstatt zu bieten, die am Tag zuvor den Vertretungsplan nicht richtig gelesen hatten oder Latein oder Mathe an diesem Morgen einfach nicht gebrauchen konnten. Auch Insasse sen der Berufsschule (neben unserem Gymnasium) konnte man hier um diese Zeit schon antreffen.
Hinter dem Tresen stand Siggi, ein großer Mann mit tadellosen Manieren. Plumpe Vertraulichkeit war seine Sache nicht. Es dauerte Monate, bis er mir das Du anbot, welches ich mir wahrscheinlich dadurch verdient hatte, dass ich auch an den Abenden auftauchte und mich nicht drei Stunden an einer Cola festhielt.
Anni, Frau Wirtin, würde ich heute noch siezen, wenn ich sie auf der Straße träfe. Als Jungspund Frau Wirtin duzen - auch das machte man nicht bei Siggi. Frühmorgens stand sie in der engen Küche und briet in der gusseisernen Pfanne die Frikadellen, immer im weißen Haushaltskittel und mit perfekt »gemachten« Haaren, stets gepflegt, aber nie übertrieben herausgeputzt. Überhaupt umgab das Wirtsehepaar eine Aura natürlicher Würde.
Anfang der Sechziger hatten Siggi und Anni die Kneipe übernommen, und Generationen von Schülern sind hier abgestürzt. Natürlich ist es schockierend, sich vorzustellen, wie sechzehn- oder siebzehnjährige Jungspunde sich schon um kurz nach acht oder in der großen Pause um halb zehn einen halben Liter Pils einverleiben, aber wie sagte Siggi gern: »Watt der Mensch braucht, datt musser haben!« Er stellte die Humpen vor uns hin und sagte: »Ja, schönschön!«, was sich anhörte wie ein völlig verdientes Selbstlob für das perfekt gezapfte kühle Blonde.
Damals in der guten, alten Zeit (Mitte der Achtziger) bedeutete nicht jedes Glas Bier gleich den Absturz in die Drogenkarriere. Einmal saß ich zusammen mit Mücke nach einem Liter Bier auf praktisch nüchternen Magen im Französischunterricht bei Frau M., und wie es so ist nach einem Liter, irgendwann will der auch wieder raus. Ich glaubte zuerst, bis zur nächsten Pause durchhalten zu können, aber dann dachte ich, das Zeug läuft mir gleich aus den Ohren heraus. Ich wollte gerade aufstehen, als Mücke sich erhob und erstaunlich fehlerfrei fragte, ob er mal zur Toilette dürfe, was ihm selbstredend gewährt wurde. Ich sah den endlosen Gang zum nächsten Klo vor mir und malte mir aus, wie lange Mücke für Hin- und Rückweg sowie für das Ablaufenlassen brauchen würde. Ich spürte Panik in mir aufsteigen. Zeit ist nicht relativ. Die folgenden Minuten waren absolut. Und zwar absolut zu lang. Ich versuchte, an etwas anderes zu denken, sah aber nur Mücke vor mir, wie er mit einem wohligen Aufstöhnen seinen Strahl in die Keramik abschoss. Plötzlich meinte ich den Wasserhahn des Waschbeckens in der Ecke tropfen zu hören. Auch draußen auf dem Schulhof rieselte irgendwas. Ich hörte das Blut in meinen Adern rauschen. Alles fließt, dachte ich, nur ich nicht.
Nach einer nicht nur gefühlten, sondern tief empfundenen Unendlichkeit kam Mücke zurück, und noch bevor sein Hintern wieder die Sitzfläche seines Stuhls berührte, war ich schon auf den Beinen und trippelte in kurzen Schritten auf die Tür zu, den Blick fest auf die Klinke gerichtet, die vor meinen Augen immer wieder
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