Radioactive (Die Vergessenen) (German Edition)
Fenster, als wäre es der Weg in eine andere, bessere Welt.
Langsam nähert sie sich der Tür, so als hätte sie Angst, dass diese sich in Luft auflösen könnte, wenn sie zu schnell auf sie zustürmt.
Ganz vorsichtig legt sie ihre Hände auf die kalte Scheibe des Fensters und blickt in das Innere der Zelle. Erschrocken schnappt sie nach Luft und beginnt zu schluchzen. „Sie ist es.“
Tränen quellen unaufhaltsam aus ihren Augen, als sie sich mir zuwendet und ihre Aussage noch einmal wiederholt, so als könne sie es selbst kaum glauben. „Sie ist es. Kannst du die Tür öffnen?“, setzt sie flehend hinzu.
Ich weiß es nicht genau. Die Tür ist durch ein Zahlenfeld gesichert. Beim letzten Mal hatte ich Angst davor zu versuchen, irgendeine Zahl einzugeben. Ich hatte Angst vor Z318 und habe es irgendwie auch immer noch.
„ Willst du auch mal durchsehen?“, fordere ich Finn freundlich auf, doch er zuckt nur unbeteiligt mit den Schultern.
„ Warum, wenn du ohnehin die Tür öffnest?!“
Er scheint verärgert über mich zu sein, dass er überhaupt mit hierher kommen musste. Aber vielleicht ändert sich das ja, wenn er seine Mutter erst einmal vor sich stehen sieht.
Die einzige mögliche Zahl, die mir in den Sinn kommt, ist die Jahreszahl der Gründung der Legion. 2105.
Mit zittrigen Fingern tippe ich die Zahl in das Tastenfeld. Ich rechne fest damit, ein rotes Licht zu sehen und die Computerstimme zu hören, die uns den Zugang verwehrt. Doch nichts von dem passiert. Stattdessen gibt die Tür nur ein kurzes Klicken von sich und schwingt dann einen schmalen Spalt breit auf.
Für Zoe gibt es kein Halten mehr, noch ehe ich etwas unternehmen könnte, stürmt sie an mir vorbei und reißt die Tür auf. Sie rennt in das Innere der Zelle und schmeißt sich ihrer Mutter weinend in die Arme.
„ Mama“, schluchzt sie dabei immer wieder.
Während Maggie im ersten Moment noch überrumpelt wirkt, schließt sie im nächsten bereits Zoe fest in ihre Arme und vergräbt ihr Gesicht an ihrer Halsbeuge. Tränen sickern von ihren Wangen in den braunen Stoff von Zoes Anzug. Sie streicht ihrer Tochter über den kahlen Kopf.
Die Szene berührt mich und kommt mir gleichzeitig seltsam bekannt vor. Ich kann nicht sagen woher, aber es scheint mir, als hätte ich dasselbe so schon einmal gesehen. Nein, nicht gesehen, sondern gefühlt. Vor allem die fürsorgliche Reaktion von Maggie, die wohl typisch für eine Mutter ist, erinnert mich an irgendjemanden. Vielleicht Grace? Aber sie und Emily waren nie getrennt. Ich kann so eine Szene bei ihnen nicht beobachtet haben.
Betreten blicke ich weg, um den beiden wenigstens etwas Privatsphäre zu gönnen. Mein Blick bleibt an Finn haften, der wie zur Salzsäule erstarrt hinter mir steht und mit gebanntem Blick in das Innere der Zelle starrt.
Nun bemerken auch Zoe und Maggie Finn. Lächelnd strecken beide ihre Hände nach ihm aus, um ihn ihre Mitte aufzunehmen.
„ Komm zu uns“, fordert ihn Zoe auf, wobei ihre Stimme vor lauter Emotionen zittert.
Panisch schüttelt Finn den Kopf und tritt einen Schritt zurück.
„ Finn, mein Sohn“, flüstert Maggie liebevoll und geht einen Schritt in seine Richtung.
Geschockt stößt Finn Luft aus und schlägt die offene Tür zu, sodass seine Mutter und seine Schwester hinter der Zellentür verschwinden.
Wütend funkelt er mich an. „Wie konntest du mir das nur antun?“
Ich bin überrumpelt und weiß nicht, was ich antworten soll. Ich wollte ihm doch nur helfen.
„ Ich dachte, deine Mutter zu sehen, würde dir helfen, dich zu erinnern…“
Seine Faust donnert gegen die geschlossene Tür, noch bevor ich meinen Satz überhaupt beendet habe.
„ Und wieder geht es nur um meine verdammte Erinnerung! Ich dachte, du hättest verstanden, dass ich ein neues Leben begonnen habe. Der alte Finn ist tot!“
Seine Stimme hallt wie ein unangenehmes Summen in meinen Ohren nach. Ich weiche erschrocken vor ihm zurück. Obwohl er mir sagt, dass der alte Finn tot ist, benimmt er sich in diesem Moment haargenau wie er: Aggressiv und haltlos.
„ Ich verstehe dich, aber es ändert nichts daran, dass Maggie deine Mutter ist“, erwidere ich kleinlaut.
„ Z318“, entgegnet Finn kalt.
Ich kann nicht glauben, wie emotionslos er über seine eigene Mutter spricht. Die Mutter, deren Tod ihn fast in den Wahnsinn getrieben hätte. Die Mutter, um die er Tage, Nächte, Wochen und Monate geweint und getrauert hat. Die Mutter, für deren Tod er bereit war, die ganze
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