Rächende Geister
übrige Familie so widerlich fand.
Einen Augenblick verharrte Renisenb unschlüssig; dann ging sie langsam in die kleine Kammer, wo ihre Großmutter, Esa, sich in Gesellschaft von zwei kleinen schwarzen Sklavinnen befand. Sie war gerade damit beschäftigt, einige Linnengewänder zu prüfen, und sie schalt die Mädchen auf die für sie kennzeichnende freundliche Art.
Ja, alles war wie früher. Unbemerkt stand Renisenb da und lauschte. Die alte Esa war ein wenig eingeschrumpft, aber ihre Stimme hatte sich nicht verändert, und sie sagte das gleiche, beinahe Wort für Wort, wie vor acht Jahren, ehe Renisenb die Heimat verließ…
Renisenb schlüpfte wieder hinaus. Weder die alte Frau noch die beiden kleinen Sklavinnen hatten sie bemerkt. Eine Weile blieb sie vor der offenen Küchentür stehen. Der Geruch von gebratenen Enten; lautes Lachen und Schelten durcheinander; ein Berg von Gemüse, der auf Zubereitung wartete…
Frauenstimmen von überall her.
Ein Haus voller Frauen, die nie ruhig, nie friedlich waren, die fortwährend redeten, aber nichts taten!
Renisenb trat rasch wieder aus dem Haus in die heiße, klare Stille. Sie sah Sobek von den Feldern zurückkommen, und in der Ferne gewahrte sie Yahmose, der zum Grab hinaufging.
Sie bog in den Pfad ein, der zu den Kalksteinfelsen führte, wo die Grabstätte lag. Es war das Grab des großen edlen Meriptah, das ihr Vater als Totenpriester zu hüten hatte. Der ganze Besitz und das Land ringsum gehörten zu der Grabstiftung.
Während der Abwesenheit ihres Vaters oblagen ihrem Bruder Yahmose die Pflichten des Ka-Priesters. Als Renisenb oben anlangte, traf sie Yahmose im Gespräch mit Hori, dem Verwalter ihres Vaters, in einer kleinen Felsenkammer neben dem Eingang zum Grab.
Hori hatte eine Papyrusrolle über den Knien ausgebreitet, und er und Yahmose beugten sich darüber.
Sowohl Yahmose als auch Hori lächelten, als sie Renisenb bemerkten, und sie ließ sich in ihrer Nähe im Schatten nieder. Sie hatte ihren Bruder Yahmose von jeher geliebt. Er war stets freundlich und liebevoll zu ihr und hatte ein sanftes Gemüt. Auch Hori war in seiner ernsten Art zu der kleinen Renisenb stets gütig gewesen und hatte ihr öfters ihr Spielzeug instand gesetzt. Er war ein herber, schweigsamer junger Mann gewesen, als sie fortging. Renisenb fand, dass er sich kaum verändert hatte, obwohl er älter geworden war.
Während Yahmose und Hori über den Handel mit Gerste und Öl sprachen, blieb Renisenb still und zufrieden im Hintergrund sitzen.
Nach einer Weile entfernte sich Yahmose.
Renisenb deutete auf die Papyrusrolle in Horis Hand und fragte:
»Ist das von meinem Vater?«
Hori nickte.
»Was steht darin?«, erkundigte sie sich neugierig.
Sie betrachtete die Zeichen, die ihren leseunkundigen Augen nichts sagten.
Mit einem leichten Lächeln beugte Hori sich über ihre Schulter, und sein Finger fuhr den Schriftzeichen nach, während er vorlas:
»Der Ka-Diener Imhotep sagt: Möge euch Gesundheit beschieden sein wie denen, die lange leben. Mögen die Götter euch schirmen. Der Sohn spricht zu seiner Mutter, der Ka-Diener zu seiner Mutter Esa: Lebst du in Gesundheit und Sicherheit? Zu seinem Sohn Yahmose: Lebst du in Gesundheit und Sicherheit? Bebaue mein Land nach allen Kräften. Arbeite hart. Siehe, wenn du fleißig bist, will ich die Götter loben…«
Renisenb lachte: »Der arme Yahmose! Er arbeitet sicherlich hart genug.«
Die Ermahnung des Vaters ließ den Priester wie lebendig vor ihr inneres Auge treten – seine würdige Erscheinung, seine leicht zur Übertreibung neigenden Mahnreden und dauernden Anweisungen.
Hori fuhr fort:
»Achte sorgsam auf meinen Ipy. Ich höre, dass er unzufrieden ist. Sieh auch darauf, dass Satipy Henet gut behandelt. Vergiss nicht, über Flachs und Öl zu berichten. Achte auf das Wachstum meines Korns, achte auf alles, was mein ist; denn ich werde dich zur Rechenschaft ziehen. Wenn mein Land überschwemmt wird, wehe dir und Sobek.«
»Mein Vater ist genau wie früher«, sagte Renisenb fröhlich. »Immer denkt er, dass nichts recht getan wird, wenn er nicht hier ist.«
Hori antwortete nicht; er nahm einen Papyrus und begann zu schreiben.
Eine Zeit lang sah Renisenb ihm zu, dann bemerkte sie träumerisch: »Es wäre wohl interessant, schreiben zu können. Warum lernen es nicht alle Menschen?«
»Das ist nicht nötig.«
»Vielleicht nicht nötig, aber angenehm.«
»Glaubst du, Renisenb? Was für einen Unterschied würde es für dich
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