Rächer des Herzens (German Edition)
blaues Band hielt die Locke zusammen.
Isabella legte die Haarlocke sorgfältig wieder in das Medaillon und ließ den Verschluss zuschnappen. Plötzlich ergab alles einen Sinn. Indias geheimnisvolle Reise nach Schottland mit Lady Jane … Eine Haarlocke und ein Miniaturporträt … Das Gerücht von Lord Johns unehelichem Kind, das sie von Anfang an für unbegründet gehalten hatte … Ein gut aussehender junger Leutnant, der im Ballsaal eine Szene machte und von dem wutentbrannten Lord John hinausgeworfen worden war …
Trotz der Wärme in dem Raum fröstelte Isabella. Das Medaillon ruhte fest in ihrer Hand, und sie kannte jetzt Indias Geheimnis. Sie schloss die Truhen wieder und ging erschöpft nach unten. Es war ihr klar, dass sie jetzt mit Marcus sprechen musste, selbst wenn sie Angst davor hatte.
Sie stieß die Tür zum Arbeitszimmer auf. Marcus saß am Schreibtisch in der Nähe des Fensters. Das helle Sonnenlicht des späten Nachmittags fiel durch die Scheiben und ließ das polierte Holz des Schreibtisches dunkel erglänzen. Marcus hatte seine Brille auf und las ein Buch. Er saß ganz still da und war von der Lektüre so gefesselt, dass er Isabellas Hereinkommen offenbar nicht gehört hatte.
Einen Augenblick lang beobachte Isabella ihn. Die Stirnfalten zeigten seine Konzentration, und die Sonne beleuchtete die hier und da hervortretenden grauen Stellen in seinem Haar. Wir sind beide nicht mehr jung, dachte Isabella. Sie spürte plötzlich ein so starkes Aufwallen ihrer Liebe zu ihm, dass sie irgendeine unwillkürliche Bewegung gemacht haben musste, denn Marcus sah nun doch auf. Dann lächelte er und schlug das Buch zu. Isabellas Herz begann, schnell zu pochen.
„Hallo, meine Liebste“, sagte er. „Was darf ich für dich tun?“
„Marcus“, antwortete sie und hielt inne. Plötzlich erschien ihr der Gedanke, mit ihm über India zu sprechen, so entlegen und geradezu unmöglich, dass sie fast auf dem Absatz kehrtgemacht hätte. Wie konnte sie das nur tun? Er wäre sicher böse auf sie, weil sie die Sachen seiner verstorbenen Frau durchsucht hatte. Irgendwelchen Erklärungen oder auch Anschuldigungen, die sie vorbringen würde, riefen sicher nur seine Verachtung hervor. Und noch dazu würde ihn alles sehr verletzen und seine Erinnerungen zerstören. Dafür liebte sie ihn zu sehr. Trotzdem war sie sicher, dass sie den Schlüssel zu dem Geheimnis um Edward Warwick in Händen hielt und sie mit Marcus darüber sprechen musste.
„Ich wollte mit dir reden“, sagte sie. „Es geht um India. Marcus, es ist wichtig.“
Sein Lächeln schwand. Auch in seinen Augen konnte sie diese gewisse Zurückhaltung sehen, die ihr schon so schmerzlich vertraut war. Es war derselbe Gesichtsausdruck, den er bei jeder Erwähnung Indias bekam und der sie selbst auf Distanz hielt. Aber diesmal war sie entschlossen, beharrlich zu bleiben.
„Bitte, Marcus“, sagte sie eindringlich. „Ich verstehe, dass das sehr schwer für dich sein muss.“
Etwas Undeutbares blitzte in seinen Augen auf. „Ja“, sagte er dann nach kurzem Zögern, „das ist wahr, aber ich habe schon seit einiger Zeit vor, mit dir darüber zu sprechen.“
Isabella war überrascht. „Ja?“
Marcus machte eine Handbewegung, damit sie sich setzen sollte, und sie ließ sich auf die Polster nieder. Er nahm seine Brille ab und rieb sich die Augen.
„Es gibt etwas, was ich dir sagen muss, Bella.“
Eine lange Pause trat ein und dehnte sich wie ein Spinnennetz zwischen ihnen aus. Isabella wartete, und das Herz schlug ihr bis zum Hals.
„Ich habe India nie geliebt“, sagte er schließlich unverblümt. „Gott weiß, wie sehr ich es versucht habe, aber ich konnte es nicht. Ich gab allen und sogar mir selbst gegenüber vor, dass ich sie liebte, aber ich wusste immer, wie wenig das stimmte. Selbst bei der Hochzeitszeremonie, als wir einander unser Eheversprechen gaben, wusste ich, dass es ein Fehler war. Ich heiratete die falsche Cousine, und ich wusste es von Anfang an.“ Er sah in Isabellas weiß gewordenes Gesicht, und ein schwaches Lächeln spielte um seine Lippen. „Du scheinst sehr erschrocken zu sein, Bella. Hast du so etwas nie vermutet?“
Isabella fasste sich. „Ich … bin über alle Maßen erstaunt. Niemals hätte ich vermutet, dass es so sein könnte. Im Gegenteil, ich dachte immer, dass du ihr im Leben hingebungsvoll verbunden warst und nach ihrem Tod ihr Gedächtnis wert hieltest.“
Sein Lächeln wurde stärker. Er lehnte sich gegen die
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