Raecher des Herzens
wir nicht zu streiten.« Rios Lächeln war nicht ohne Bitterkeit. »Aber Sie müssen wissen, für mich ist die Ehre alles, was ich habe.«
Rio schwieg und ließ die Stille ihre Wirkung tun. Endlose Minuten vergingen, während denen Celina ihn eingehend musterte. Nichts schien ihrem Blick zu entgehen, bis er schließlich an der Narbe auf seinem Kinn hängen blieb. Man hätte glauben können, sie wolle bis in seine Seele hineinsehen. Dann rutschte ein Brocken Kohle in die Glut. Die Flammen loderten noch einmal auf und warfen orangefarbene Schatten an die Wände. Sie spiegelten sich in Celinas Augen und erhellten deren Dunkelheit.
»Ich glaube, nun verstehe ich Sie«, sagte sie. »Es lag nie in Ihrer Absicht, mich zu irgendwelchen Intimitäten zu nötigen. Sie wollten mich nur auf die Probe stellen. Ja, und vielleicht wollten Sie mich auch warnen.«
»Ich bewundere Ihren Tiefsinn.«
»Sicher nähmen Sie das Opfer nicht einmal an, selbst wenn ich mich auf der Stelle in Ihre Arme werfen würde.«
Die heiße Woge, die Rio bei dieser Vorstellung durchflutete, überraschte ihn. Mit aller Macht kämpfte er sein Verlangen nieder. Dennoch gelang es ihm nicht, seiner Stimme einen völlig neutralen Ton zu geben.
»An Ihrer Stelle würde ich nicht die Probe aufs Exempel machen«, sagte er ein wenig heiser.
»Das habe ich auch nicht vor. Aber verstehen Sie doch, es ist gerade Ihr Ruf als Ehrenmann, der mich veranlasste, mit meinem Anliegen zu Ihnen zu kommen. Wozu sollte Ihnen ein Kampf mit meinem Bruder dienlich sein? Sie sind ein Maitre d’Armes, ein Fechtmeister, der andere die Kunst des Umgangs mit der Klinge lehrt. Noch nie ist es einem Gegner gelungen, Sie zu schlagen. Sie beherrschen alle Fertigkeiten, alle Finten und sind jedem Herausforderer gewachsen. Das haben Sie bei öffentlichen Schaukämpfen gegen die besten Fechtinstruktoren von New Orleans oft genug unter Beweis gestellt. Wer wollte Sie der Feigheit bezichtigen, wenn Sie in diesem Fall sich nicht auf dem Kampfplatz einfinden? Was ist unehrenhaft daran, wenn Sie einem, der Ihnen nie das Wasser reichen könnte, ein Duell mit vielleicht tödlichem Ausgang ersparen?«
Celina hatte mit Leidenschaft gesprochen, doch Rio konnte sich nicht erlauben, sich davon erweichen zu lassen. »Sie wissen, dass Ihr Bruder erledigt ist, wenn ich nicht erscheine. An der Schande zu sterben ist keinesfalls leichter als an einem Stich ins Herz.«
»Dann fechten Sie mit ihm, aber ...«
»... aber tun Sie ihm nichts zuleide?«, fiel er ihr ins Wort. »Zwingen Sie ihn nicht, sich zu verteidigen? Vielleicht wollen Sie mich auch noch bitten, mich ein-oder zweimal von ihm durchbohren zu lassen, damit er als ruhmreicher Sieger vom Felde ziehen kann?«
»Das habe ich nie gesagt!«
»Wohl wahr. Aber gedacht haben Sie daran. Geben Sie es zu.«
Celina war klug genug, ihm nicht zu widersprechen. Stattdessen sagte sie: »Vor drei Jahren fiel mein älterer Bruder, Theodore, auf dem Feld der Ehre. Im Sommer darauf starben meine Mutter und meine jüngere Schwester an Gelbfieber, während sich mein Vater wegen seiner Herzbeschwerden in White Sulphur Springs aufhielt. Denys und ich entgingen dem Fieber nur, weil wir ihn begleiteten. Nun ist Denys der Letzte der Valliers. Wenn er ... wenn er morgen sterben sollte, ist das auch der sichere Tod meines Vaters.«
»Wie melodramatisch«, sagte Rio. »Er hätte doch noch Sie.«
»Eine Tochter?« Celinas Lächeln wirkte fast grimmig. »Das ist nicht dasselbe.«
Rio verstand sehr gut, was sie meinte. Die in New Orleans ansässigen Franzosen liebten ihre Töchter, verwöhnten sie und erfreuten sich an ihren entzückenden kleinen Eigenheiten, wie man sich an einem drolligen Kätzchen erfreut. Doch eine Tochter bedeutete immer auch eine gewisse Gefahr für die Familienehre. Deshalb bemühte man sich, so bald wie irgend möglich eine standesgemäße und im besten Falle sogar einträgliche Ehe für sie zu arrangieren. Wenn die Familie aus der Verbindung einen finanziellen Nutzen ziehen konnte, wenn sie dem gesellschaftlichen Ansehen zuträglich war - umso besser. Fand sich kein passender Verehrer oder fehlte das Geld für die Mitgift, so war die Tochter des Hauses dazu verurteilt, sich für den Rest ihres Lebens um die alternden Eltern zu kümmern, einem Bruder den Haushalt zu führen oder die Kinder der Verwandtschaft zu hüten. Ansonsten konnte man sie immer noch ins Kloster schicken. Ein Sohn hingegen sorgte dafür, dass der Familienname erhalten
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