Rätselhafte Umarmung
gewesen war - daß Addie sie beinahe nicht wiedererkannt hätte? Bryan versuchte, sich einzureden, daß Rachel das ganz recht geschah. Schließlich war sie weggelaufen und fünf Jahre lang nicht heimgekommen. Es geschah ihr recht, daß sie Angst hatte. Aber trotzdem fühlte er, wie er Mitleid mit ihr bekam. Rachels Augen erinnerten ihn an die eines kleinen Kindes. Sie waren voller Hoffnung und Reue. Wenn sie ihn so angesehen hätte, hätte er ihr bestimmt alles vergeben.
»Rachel«, sagte Addie noch einmal und kam die letzte Stufe herunter. Sie hielt sich kerzengerade.
Das war die Tochter, der sie ihr ganzes Leben geopfert hatte. Das war die Tochter, die beschlossen hatte, all ihre gemeinsamen Träume für einen Herumstreuner mit einer mittelmäßigen Stimme und einer verschrammten Gitarre wegzuwerfen. Das war die Tochter, die sie im Stich gelassen hatte. Ihr schwächer werdender Geist hatte keine Schwierigkeiten, sich an diese Tatsachen zu erinnern, während er Rachels Versuche, Frieden zu schließen, vollkommen vergaß. Der alte Schmerz, die alte Bitterkeit kamen wieder hoch und verdrängten die Freude und das schlechte Gewissen. Ihr Gehirn konnte nicht mehr mit mehreren Gefühlen auf einmal fertig werden, deshalb beschränkte es sich auf das stärkste. Eigensinnig und stolz streckte sie das Kinn vor und starrte in das Gesicht, das sie so stark an jenes Gespenst aus ihrer Vergangenheit erinnerte. »Was willst du hier?«
Die Enttäuschung traf Rachel wie ein Schlag. Sie versuchte nicht, den Tränen Einhalt zu gebieten, die ihr in die Augen stiegen, aber sie schaffte es, ihre Stimme klar klingen zu lassen. »Ich bin gekommen, um dir zu helfen. Dr. Moore hat mich angerufen und mir von deiner Krankheit erzählt.« Warum hast du nicht angerufen? Warum konntest du nicht wenigstens einmal über deinen verdammten Schatten springen und mir sagen, daß du mich brauchst?
»Broderick Moore ist ein Taugenichts und ein Dummkopf. Mit mir ist alles in Ordnung. Ich brauche deine Hilfe nicht«, verkündete Addie eisig. Sie schaute Bryan an. »Außerdem habe ich Hennessy, der mir hilft.«
Automatisch machte Bryan einen Schritt zurück. Er kam sich ohnehin wie ein Voyeur vor, weil er diese Begegnung zwischen Mutter und Tochter beobachtete; jetzt hatte er auch noch das Gefühl sich einzumischen. Rachel funkelte ihn wütend an, mit glitzernden Tränen in den dunkelblauen Augen, und er hob abwehrend beide Hände. Er warf Addie einen kurzen Blick zu. »Addie, Sie wissen, daß ich nur Wimseys wegen hier bin.«
»Also, ich verstehe nicht, warum Sie ihn nicht finden«, murrte sie. Ihr Geist hatte sich schon wieder verschlossen. »Er spukt doch ständig hier herum.« Sie machte kehrt und schlurfte durch den Flur davon. Ihre grünen Gummistiefel quietschten über den Marmorboden. »Ich gehe Lester füttern. Sie haben das bestimmt wieder vergessen. Sie waren doch sicherlich wieder damit beschäftigt, vor dem Spiegel zu stehen und Ihre Stoppeln zu zählen. Sie alter irischer Ganove.«
Bryan rieb sich mit der flachen Hand über den Kiefer und registrierte undeutlich, daß er vergessen hatte, sich zu rasieren. Er wusste nicht recht, was er zu Rachel sagen sollte, die in der Eingangshalle stand und wie eine Kristallvase wirkte, kurz bevor sie in tausend Scherben zerspringt. Plötzlich war es ihm egal, ob sie eine gute oder schlechte Tochter gewesen war; offensichtlich hatte sie der unterkühlte Empfang, den ihr Addie bereitet hatte, tief getroffen, und ganz bestimmt hatte sie der geistige Verfall ihrer Mutter schockiert. Jetzt hatte er einfach Mitleid mit ihr. Am liebsten hätte er sie in die Arme genommen und getröstet.
»Gefährlich, so was, Hennessy«, brummelte er vor sich hin.
»Misch dich nicht ein. Notier dir das - misch dich nicht ein.« Er tastete die Hemdtasche nach einem Kugelschreiber ab, aber der war wieder mal verschwunden. »Und vergiss nicht, dich morgen früh zu rasieren.«
»Wie bitte?« fragte Rachel. Wenn sie schon sonst nichts zustande brachte, konnte sie wenigstens höflich sein, dachte sie deprimiert. War das nicht eine der Verhaltensregeln der Lindquists? Ein leises, hysterisches Lachen kitzelte sie in der Kehle, blieb aber stecken.
Bryan errötete leicht. »Nichts.«
Rachel schlang die Arme um ihren Leib, um die Kälte abzuwehren, die aber von innen kam. »Wahrscheinlich hätte ich nichts anderes erwarten dürfen«, murmelte sie vor sich hin. Sie schaute ihrer Mutter nach, die am anderen Ende des Ganges in den
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