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Rätselhafte Umarmung

Rätselhafte Umarmung

Titel: Rätselhafte Umarmung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tami Hoag
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Klippe oberhalb der Bucht am Nordende Anastasias. Wegen dieser Lage und der Größe des Grundstücks wohnten die nächsten Nachbarn vierhundert Meter weit entfernt. Das Haus wirkte auf seinem einsamen Vorsprang wie ein riesiger Wachposten, ein protziges Denkmal aus längst vergangenen Zeiten.
    Früher hatte es mit seinen Türmchen und Giebelchen und seinem Schnitzwerk vielleicht fröhlich und zauberhaft ausgesehen. Jetzt war es heruntergekommen, hätte dringend einen frischen Anstrich gebraucht und schien direkt aus einem Horrorfilm zu stammen. Das Land, das sich davor erstreckte, war einst ein glatter, gepflegter Rasen gewesen. Es hatte Beete und sogar ein Heckenlabyrinth gegeben. In Anastasias Architektur: Ein Essay in Bildern hatte er Fotos davon gesehen. Die Beete waren längst unter Unkraut verschwunden, und das Labyrinth hatte sich in ein riesiges, undurchdringliches Buschdickicht verwandelt.
    Die wenigen Menschen, die Drake House besuchten, kamen ausschließlich tagsüber und beugten sich damit abergläubischen Ängsten, die sie sich nie eingestehen würden. Die meisten kamen, um in den Antiquitäten zu wühlen, die Addie angehäuft hatte, um sie irgendwann zu verkaufen. Die Jugendlichen aus dem Ort wagten sich nachts manchmal bis an die Auffahrt. Bryan hatte sie gesehen - sie kamen zu viert oder fünft, wagten sich jedoch nie näher. Sie blieben unten an der Auffahrt stehen und schubsten sich gegenseitig durch das große Tor, drangen aber nie weiter vor. Sie waren fest davon überzeugt, daß es im Haus spukte. Und sie hatten höllische Angst vor Addie.
    Addie. Bryan sah zum Haus hoch und erblickte ihre Silhouette, als sie hinter einem Fenster vorbeiging. Er wusste , daß sie jetzt all die Vogelkäfige abklapperte, die sie angesammelt hatte, und die kleinen Näpfe mit Vogelfutter füllte. Morgen früh würde er die Näpfe leeren, bevor Addie aufstand, sonst würde sie sich aufregen, weil sie glaubte, daß Lester krank war. Es schien ihr nicht das geringste auszumachen, daß Lester in keinem der Käfige saß. Aber vielleicht sah sie ja Vögel, die eigentlich gar nicht da waren. Geistervögel.
    Er fand den vermissten Stift und ein zerknülltes Stück Papier und machte sich eine Notiz deswegen; dann schüttelte er den Kopf, stopfte sich das Papier in die Hosentasche und hatte es schon wieder vergessen. Addie hatte ihre klaren Momente. Manchmal war ihr Verstand scharf wie eine Rasierklinge. Aber schon einen Augenblick später konnte sie sich mit Menschen unterhalten, die gar nicht da waren, oder unsichtbare Vögel füttern.
    Es war ein Trauerspiel, aber es ging ihn eigentlich nichts an, ermahnte er sich selbst. Er hatte genug mit seinem eigenen Elend zu tun; er brauchte sich nicht auch noch um das anderer Leute zu kümmern.
     
    Rachel sah ihre Mutter von Vogelkäfig zu Vogelkäfig gehen, und Angst schnürte ihr die Kehle zu. So schlimm konnte es doch nicht um Addie stehen. Allein die Möglichkeit entsetzte Rachel. Je weiter sich ihre Mutter von der Wirklichkeit entfernte, desto schlechter standen die Chancen, daß sie sich noch aussöhnten.
    Irgendwie kam es Rachel vor, als hätte ihre Mutter diese Krankheit gerade erst entwickelt - vielleicht weil sie selbst erst vor kurzem davon erfahren hatte. Sie wollte nicht wahrhaben, daß Addies geistiger Verfall bestimmt schon vor Jahren eingesetzt hatte und daß ihre Mutter die Krankheit lange ignoriert oder verheimlicht hatte.
    Addie war nach Anastasia umgezogen, sobald sie sich als Musiklehrerin in Berkeley zur Ruhe gesetzt hatte; kurz nachdem Rachel mit Terence durchgebrannt war. Laut Dr. Moore hatten die Bewohner von Anastasia ihr eigenartiges Verhalten für »exzentrisch« gehalten, außerdem gab es, wie der gute Doktor freimütig zugegeben hatte, im Ort mehr als genug verschrobene Käuze, so daß Addie nicht weiter aufgefallen war. Erst nachdem sie ihren Volvo rückwärts über die ganze Hauptstraße gesetzt und im Schaufenster des örtlichen Kinos geparkt hatte, hatte es jemand für nötig gehalten, Dr. Moore zu alarmieren.
    »Mutter, es ist schon spät«, sagte Rachel müde. Sie lehnte sich an den Türrahmen zum Salon, um sich einen kurzen Augenblick auszuruhen. Jetzt war nicht der Zeitpunkt, sich mit diesem ganzen Schlamassel auseinanderzusetzen - der Krankheit, der Last der Vergangenheit, Bryan Hennessy. »Du gehörst ins Bett.«
    Addie stellte das Vogelfutter ab, drehte sich zu ihrer Tochter um und zog eine Braue hoch. Sie nahm es Rachel übel, daß sie sie

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