Rätselhafte Umarmung
anderen Bereichen des riesigen Hauses verschwand. »Sie wollte nie, daß ich sie besuche. Warum sollte sich das geändert haben?«
»Sie haben es versucht?« platzte Bryan heraus. Sein Magen kribbelte vor Scham. Er war gar nicht auf die Idee gekommen, daß Ad-dies Schilderungen nicht der Wahrheit entsprechen könnten.
Rachel warf ihm einen kühlen Blick zu und hüllte sich in die letzten Fetzen ihres Stolzes. »Es gibt vieles, was Sie nicht wissen, Mr. Hennessy.«
Bryan schob die Brille nach oben und nickte. »Aber ja. Ich gebe gerne zu, daß es viele Dinge gibt, die ich nicht weiß.« Er ließ sein verwegenstes Grinsen aufblitzen, um sie ein bisschen aufzuheitern. »>Man weiß nicht, was man weiß, bis man weiß, was man nicht weiß.< Thomas Carlyle. Ich habe mir das zum Motto gemacht.«
»Ich verstehe«, murmelte Rachel, obwohl sie augenscheinlich nichts verstand.
Bryan ließ sich davon nicht stören. Hauptsache, Rachels Augen sahen nicht mehr ganz so traurig aus. Sie starrte Addie nicht mehr mit diesem Ausdruck völliger Enttäuschung nach. Irgendwann würde sie sich diesen Gefühlen stellen müssen, das war ihm klar, aber wenigstens hatte er der ersten Begegnung den schlimmsten Schrecken genommen.
Er steckte die Hände in die Vordertaschen seiner Jeans und starrte gedankenversunken zum Kronleuchter hinauf. »Natürlich hat John Wooden einmal gesagt: >Was man lernt, nachdem man glaubt, alles zu wissen, zählt am meistens Wusste n Sie zum Beispiel, daß die Länge eines Alligators, in Fuß gemessen, dem Abstand zwischen seinen Augen in Zoll entspricht?«
Rachel öffnete den Mund, um ihm zu antworten, schloss ihn jedoch gleich wieder und starrte ihn verständnislos an. Wie war er darauf gekommen? Wer um alles in der Welt würde versuchen, den Abstand zwischen den Augen eines Alligators zu messen? Der Mann war ein Wahnsinniger. Ein ungepflegter, gutaussehender Wahnsinniger.
Sie schüttelte den Kopf. Offenbar war sie selbst nicht mehr ganz bei Trost: Wie konnte sie nur ständig darüber nachdenken, wie sexy dieser Fremde war? Schließlich beschloss sie, nach etwas Bodenständigerem zu fragen. »Wer ist Lester?«
Bryan wurde wieder ernst und seufzte. »Es gibt keinen Lester. Also ... Ihre Mutter glaubt, sie hätte einen Papagei.«
Er zog bedauernd die Achseln hoch. »Wenn sie einen hat, dann habe ich ihn noch nicht finden können.«
»Oh.«
»Ich will ihr eigentlich einen kaufen, aber ich bin ziemlich vergesslich. Ich habe mir bestimmt deswegen eine Notiz gemacht«, sagte er und zog eine Faustvoll Papierschnipsel aus seiner Hosentasche. Er schaute sie stirnrunzelnd durch.
»Ist schon recht«, bremste ihn Rachel.
Addie glaubte, sie hätte einen Papagei. Und dieser Mann, ein vollkommen Fremder, wollte ihr einen kaufen, um ihr einen Gefallen zu tun. Wie süß. Was für ein süßer, sexy, ungepflegter Betrüger er doch war. Ihr wurde warm ums Herz, dann kam sie wieder zu sich und verfluchte schaudernd ihre unbeherrschbaren
Gefühle. Sie kam sich vor, als versuchte sie auf einem Schiff im Sturm zu tanzen.
Bryan stopfte sich die Notizzettel wieder in die Hosentasche und beobachtete Rachel unter den gesenkten Lidern hervor. Sie sah so verloren aus. In gewisser Weise kam sie ihm wie Addie vor, kürz bevor ihr Verstand aussetzte. Aber Addie zog sich in Solchen Momenten in ihre Phantasien zurück. Rachel hatte diese Möglichkeit nicht.
Ohne zu überlegen, machte er einen Schritt auf sie zu. Seltsam, aber es kam ihm fast so vor, als würde er zu ihr hingeschoben. Als er wieder klar denken konnte, war er gerade dabei, die Hand nach ihr auszustrecken. Er hielt in der Bewegung inne, klatschte in die Hände und versuchte, eine entschlossene Miene aufzusetzen. »Sie haben bestimmt einen Koffer oder so in Ihrem Wagen. Ich gehe ihn holen.«
Er drehte sich um und trat ins Freie, wo er tief durchatmete, bevor er die Veranda überquerte und die Stufen hinuntersprang.
»Heiliger Himmel, das war knapp. Du bist wohl von Sinnen«, knurrte er vor sich hin. Seine Mokassins knirschten auf der Kiesauffahrt, als er auf die kleine, klapprige Chevette zuging, die neben Addies altem Volvo-Kombi parkte.
Je weiter er sich vom Haus entfernte, desto ruhiger wurde er. Die Meeresluft war erfrischend. Der Nebel, der bei Sonnenuntergang aufgekommen war, legte sich feucht auf seine Haut. Er lehnte sich an das Dach des Kleinwagens und wartete, bis das Donnern der Brandung die Spannung von ihm gewaschen hatte.
Drake House stand auf einer
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