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Rain Song

Rain Song

Titel: Rain Song Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Babendererde
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»Woher kommt sie?«
    Er hatte seine eigenen Erfahrungen mit Fremden in Neah Bay gemacht und während der Jahre herausgefunden, dass die Beweggründe ihres Besuchs auch ihr Verhalten prägten. Auf jeden Fall war es von Vorteil zu wissen, worauf man sich gefasst machen musste.
    »Sie ist Deutsche«, antwortete Greg nach einigem Zögern. »Touristin.«
    Hunter schwieg. Er wartete darauf, dass sein Hirn die Information verarbeitete. Und gleichzeitig spürte er, wie sein linker großer Zeh zu kribbeln anfing. Er stöhnte wieder, denn das bedeutete, dass sich bald etwas ereignen würde. Seit er als junger Mann so tief in eine Glasscherbe getreten war, dass ein fünfzehn Zentimeter langer Schnitt im Fuß notwendig wurde, um die durchgetrennte Sehne wieder an ihren Platz zu holen, schien dieser Zeh ungewöhnliche Vorfälle mit einem Kribbeln anzukündigen.
    Manchmal zog sich das unangenehme Gefühl über Tage hin, bis es dann abrupt aufhörte und Hunter über Telefon oder Funk zu einem Fall gerufen wurde. Manchmal ebbte es auch einfach so ab und er erfuhr kurz darauf, dass jemand gestorben oder ein anderer zu Geld gekommen war.
    Dieses Kribbeln versetzte ihn jedes Mal in Panik, weil es glückliche wie unglückliche Ereignisse gleichermaßen ankündigte. Die Mitglieder seiner Familie waren davon nicht ausgeschlossen. Lottogewinne, Autounfälle, Geburten, natürliche und unnatürliche Todesfälle, Naturkatastrophen – all diese Dinge spürte Oren Hunters linker Zeh im Voraus.
    Aber diesmal zwang der Chief sich, den Zusammenhang im Erscheinen der deutschen Frau zu sehen. Denn erst, als er erfahren hatte, woher sie stammte, hatte das Kribbeln begonnen.
    Greg hatte gesagt, die Frau wollte keine Anzeige erstatten. Das war ein Lichtblick. Noch besser wäre es, sie würde Neah Bay so schnell wie möglich wieder verlassen. Deshalb musste er sichergehen, dass sie ihren Autoschlüssel wiederbekam.
    »Lighthouse soll nach dem Schlüssel suchen«, sagte Hunter zu Greg.
    »Aber, ich kann doch …«
    »Vielleicht liegt das Ding in der Bucht und Bill hat auf der Polizeischule in Seattle einen Tauchlehrgang mitgemacht«, sagte er. »Solche Dinge gehören zu seinem Job.«
    Greg zuckte mit den Achseln. »Okay, ich werde es ihm ausrichten.« Er wandte sich zum Gehen.
    »Und Greg, noch etwas.«
    »Ja?« Fragend sah Greg ihn an.
    »Nun – dein Vater war neulich ziemlich aufgebracht, als in der Ratsversammlung darüber gesprochen wurde, einer weißen Autorin aus Florida Einblick in unsere Geschichten und Traditionen zu gewähren. Matthew hielt eine leidenschaftliche Rede gegen den Ausverkauf unserer Kultur. Seine Wortwahl war nicht unbedingt schmeichelhaft.«
    »Und?«
    »Er hat sie als Blutsaugerin beschimpft. Danach hat ihr niemand mehr Auskunft geben wollen. Sie reiste verärgert ab.«
    »Ich bin nicht verantwortlich für das, was mein Vater da von sich gibt«, sagte Greg.
    »Ich weiß.« Oren zuckte mit den Schultern. »Ich meine nur, dass es deinem Vater nicht gefallen wird, wenn du …« Er unterbrach sich und schüttelte den Kopf.
    »Vater ist heute Morgen nach Seattle gefahren«, sagte Greg. »Vor Freitag wird er nicht zurück sein.« Er drehte sich um und lief den Pfad hinauf.
    Hunter sah, dass der junge Holzschnitzer humpelte, und blickte ihm nachdenklich hinterher. Je eher diese Frau von hier verschwand, desto besser. Alles andere würde nur noch mehr Ärger bedeuten.
    Er fragte sich, wo die Zimmerleute blieben.
    »Tauchen?«, fragte Bill entgeistert. »Er hat im Ernst gesagt, dass ich tauchen soll?«
    Greg seufzte. »Nur, wenn es notwendig ist.«
    Offensichtlich hatte der Sheriff keine Lust, ins Meer zu steigen, was Greg ihm nicht verübeln konnte. Aufgrund des späten Frühlings war das Wasser auch Anfang Juli noch empfindlich kalt und Bill wusste das.
    »Hunter will, dass du das übernimmst«, sagte Greg. »Außerdem war ich heute schon da drin und einmal reicht.«
    Dem Sheriff klappte die Kinnlade nach unten. »Du warst da drin?«
    »Hat der Chief dir nichts davon erzählt? Die Frau ist durch das Geländer gebrochen und hat sich oben an den Wurzeln eines Strauches festgehalten. Ich war mit meinem Boot in der Felsenhöhle und hörte sie schreien. Ich habe sie aufgefordert zu springen, sonst wäre sie unten auf die Steine gestürzt.«
    Bill machte große Augen. »Und?«
    »Sie sprang ins Wasser, kam aber nicht wieder hoch. Also bin ich hinterher und habe sie rausgeholt. Bei dem Sturz hat sie ihren Autoschlüssel verloren.

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