Rain Wild Chronicles 01 - Drachenhüter
hatte sie mit schwachköpfigen Reptilien gerechnet, bei denen es ihrer Geduld und ihres ganzen Einfühlungsvermögens bedurfte, um die angeborene Intelligenz der Drachen zu wecken. Was sie nun am Ufer sah, war eine weitere zersprungene Scheibe in ihrem Fenster der Träume. Sie war nicht die Einzige, die Drachen verstand, sie war nicht ihre Retterin.
Leftrin fasste ihre Bemerkung als Sorge um die Kinder auf und quittierte sie mit einem Schulterzucken. »In der Regenwildnis ist man nicht lange Kind. Vor allem solche Kinder wie diese sind schnell erwachsen. Seht sie Euch an. Es ist ein Wunder, dass ihre Eltern sie überhaupt behalten haben. Niemand kann mir weismachen, diese Jugendlichen hätten sich alle erst allmählich verwandelt. Mit solchen Klauen wird man geboren, die bekommt man später nicht mehr. Und dieser Mann da drüben? Ich wette, der ist mit Schuppen auf dem Kopf zur Welt gekommen und hatte noch nie auch nur ein Haar auf seinem Körper. Nein, das sind allesamt Missgeburten. Und deshalb hat man sie ausgewählt.«
Seine ungeschönte und kühle Einschätzung der Drachenhüter entsetzte Alise, und sie verfiel in Schweigen.
»Und seid Ihr und Teermann auch Missgeburten? Seid Ihr deshalb für die Expedition ausgewählt worden?« Sedrics Stimme war so ätzend wie der Fluss.
Entweder fiel Leftrin der sarkastische Tonfall nicht auf, oder er ging nicht darauf ein. »Nein, Teermann und ich wurden angeheuert. Und der Vertrag ist vorteilhaft und so wasserdicht, wie ein Vertrag nur sein kann. Teermann und ich kommen dabei sehr gut weg.« An dieser Stelle zwinkerte er Alise zu, worauf sie fast errötete. Doch er sprach weiter, als hätte Sedric es nicht bemerkt. »Nicht, weil kein anderer die Aufgabe übernehmen wollte, sondern weil das Konzil der Regenwildnis weiß, dass es kein anderer machen kann. Teermann und ich sind den Fluss weiter hinaufgefahren als jedes andere Schiff. Kann sein, dass irgendwelche Jäger und Kundschafter in Kanus noch weiter gekommen sind. Aber das, was das Konzil möchte, kann man nicht mit einem Kanu bewerkstelligen.«
»Und das Konzil möchte die Drachen aus Cassarick vertreiben.«
»Nun, das ist etwas harsch ausgedrückt, Sedric. Doch seht selbst. Ganz offenkundig leben sie unter schlechten Bedingungen. Sie sind nicht gesund, es gibt kein Wild, das sie selbst jagen könnten, und sie machen die Bäume rings um den Strand kaputt.«
»Und sie behindern die gewinnbringende Ausgrabung der verschütteten Stadt.«
»Ja, auch das«, gab Leftrin gnadenlos ehrlich zurück.
Alise sah Sedric von der Seite an. Seine letzte Bemerkung war bissig gewesen. Er war noch immer wütend, und das mit vollem Recht, wie sie sich eingestehen musste. Ihre Sitzung in der Halle der Händler in Cassarick hatte viel länger gedauert, als sie gedacht hatte. Vor allem das Aufsetzen des Vertrages zwischen Leftrin und dem Ausschuss hatte viel Zeit gekostet. Malta war dabeigeblieben, doch mit jeder verflossenen Stunde hatte sie weniger wie ein stolzer und kräftiger Elderling und mehr wie eine erschöpfte, schwangere Menschenfrau ausgesehen. Unauffällig, aber voll brennender Neugierde hatte Alise sie beobachtet.
Als Alise zum ersten Mal erfahren hatte, dass sich Menschen in Elderlinge verwandeln können, hatte das ihr Weltbild erschüttert. In ihrer Kindheit waren Elderlinge für sie Sagengestalten gewesen, schattenhafte, mächtige Geschöpfe aus Geschichten und Mythen. Die Legenden erzählten von ihrer Eleganz, ihrer Schönheit und ihrer Macht – die sie mal weise, mal mit nachlässiger Grausamkeit einsetzten. Als die ersten Siedler der Regenwildnis die Spuren ihrer alten Wohnstätten entdeckt und die Ruinen mit den beinahe mythischen Elderlingen in Verbindung gebracht hatten, waren viele skeptisch geblieben. Erst im Lauf der Jahre hatte sich die Meinung durchgesetzt, dass es sie tatsächlich gegeben hatte und dass die magischen und übernatürlichen Artefakte, die man in der Regenwildnis ausgegraben hatte, die letzten Spuren ihres Daseins auf dieser Welt darstellten. Man hatte in den Elderlingen ein ruhmreiches magisches Volk gesehen, das auf ewig verschwunden war.
Niemand hatte die bedauerlichen und oftmals grotesken Missbildungen der Regenwildsiedler mit der himmlischen Schönheit der Elderlinge, wie sie in Schriften, auf Bildteppichen und in den Legenden dargestellt wurde, in Verbindung gebracht. Schuppenhaut und leuchtende Augen waren nicht schön anzusehen, und die Regenwildleute, die darunter litten,
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