Rain Wild Chronicles 01 - Drachenhüter
Sedric floh sie nicht. Mit groben, kräftigen und erfahrenen Händen zog Hest ihn zu sich heran.
Damals hatte Sedric die Augen geschlossen, und jetzt, als er sich daran erinnerte, tat er es wieder. Jede Sekunde dieser wilden Nacht unter dem kalten, stürmischen Himmel war ihm deutlich im Gedächtnis. Diese Nacht hatte sich ihm eingeprägt und war bestimmend für ihn gewesen. Hest hatte recht gehabt. Nachdem er zugegeben hatte, was er wollte, wurde es einfacher.
Hest war erbarmungslos gewesen, hatte ihn verhöhnt und verletzt, um ihn danach wieder zu trösten und zu besänftigen. Er war grob, um dann wieder zärtlich zu sein, forderte schroff, um dann wieder liebevoll zu drängen. Um sie herum wütete der Sturm, der die Bäume bog, doch sie spürten die Kälte nicht. Das weiche Nadelbett unter den tief hängenden Ästen der immergrünen Bäume hatte einen süßen Duft verströmt, als sie sich daraufgelegt hatten. Hests Mantel hatte sie beide bedeckt. Der Sturm fegte Zeit, Familie und die Erwartungen der Welt davon.
Kurz vor Morgengrauen hatte Hest sich an der Kutschenauffahrt zum Anwesen seiner Familie von ihm verabschiedet. Danach war Sedric in schmutzigen und zerrissenen Kleidern, mit zerzaustem Haar und wunden Lippen nach Hause gehumpelt. Er schlief so lange, wie sein Vater es ihm gestattete. Später erzählte er ihm eine weitschweifige Lüge: Dass er betrunken gewesen sei, eine Bachböschung hinabgestolpert war und im Dunkeln lange den Weg nach Hause gesucht hatte. Jeder Muskel tat ihm weh, und seine Lippen waren geschwollen. Drei Tage lang hatte er sich durchs Haus seines Vaters geschlichen, meistens aber war er in seinem Zimmer geblieben und hatte sich geschämt, wenn er nicht gerade im Dunkeln vor sich hingestarrt und sich jeden Augenblick der Nacht wieder ins Gedächtnis gerufen hatte. Reue und Lust rangen miteinander um die Oberhand.
Am Morgen des vierten Tages erhielt er von Hest eine schriftliche Einladung zu einem Ausritt. Der große, taubengraue Umschlag, auf dem in großen Lettern sein Name stand, enthielt eine in Hests Handschrift verfasste Nachricht auf einem etwas helleren Papier. Sedrics Vater war erstaunt und erfreut gewesen, dass er eine gesellschaftlich so vorteilhafte Bekanntschaft gemacht hatte. Seine Mutter wurde hastig damit beauftragt, Sedrics Jacke und Reithose in einen passablen Zustand zu bringen. Sein Vater hatte ihm sein Pferd geliehen, das einzig vorzeigbare in der Familie. Bevor Sedric aufgebrochen war, hatte ihm sein Vater eingeschärft, die Gesellschaft nicht als Erster zu verlassen, sondern möglichst lange zu bleiben, falls Hest nichts dagegen hatte.
Hest hatte tatsächlich nichts dagegen gehabt, dass er länger blieb. Denn Sedric war der einzige Gast der Gesellschaft gewesen, und sie waren nur bis zu einem kleinen, verlassenen Landhof geritten, der Hests Familie gehörte. Die Zimmer in dem kleinen, windschiefen Gebäude waren – bis auf ein üppig ausgestattetes Schlafzimmer mit einer reichlich bestückten Bar – verstaubt und ungeordnet gewesen.
In den kommenden Wochen wurde Sedric rasch klar, dass Hests »Reitgesellschaften« wenig mit Pferden zu tun hatten. Eine Zeit lang wurde Hest zu seinem einzigen Lebensinhalt. In seiner Gegenwart schienen Licht, Farben und Klänge eine ganz neue Qualität zu haben. Hest ließ ihn in eine Welt voller Verführung und Befriedigung abtauchen, befreite ihn von Ängsten und Hemmungen, lehrte ihn, die vagen Sehnsüchte, die er sich nie hatte eingestehen können, durch neue Gelüste zu ersetzen. Sedric ertappte sich dabei, dass er herzlich lächelte, als er sich an diese Zeit erinnerte. Sie hatten zusammen diniert, und sie hatten Abende mit Hests Freunden verbracht. Hests Freunde – sie waren eine Lektion für sich gewesen. Reiche Händler, manche jung, manche älter, manche alleinstehend, andere verheiratet, doch allesamt hatten sie sich einem Leben voll teurer Vergnügungen verschrieben. Ihre Genusssucht hatte Sedric erstaunt, und er hatte sich an ihrer hemmungslosen Suche nach Zerstreuung gestoßen. Als er seine Bedenken Hest gegenüber geäußert hatte, hatte dieser gelacht. »Wir sind Händler, Sedric, und als solche geboren und aufgewachsen. Wir leben davon, dass wir herausfinden, was andere am meisten wollen, damit wir den besten Preis dafür erzielen können. Dabei erkennen wir natürlich, was erstrebenswert ist, und wünschen es uns selbst. Und mit dem Geld, das wir verdienen, kaufen wir es uns. Das ist der ganze Sinn dessen, was
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