Rain Wild Chronicles 01 - Drachenhüter
Einsamkeit zurückkatapultiert hatte, war allzu bitter. Denn er war es doch gewesen, der ihn aus diesem Gefängnis überhaupt erst befreit hatte. War es das, was er Sedric beweisen wollte? Dass er ihn jederzeit wieder dahin bringen konnte, wo er vor Jahren gewesen war?
Das erste Mal waren sie sich bei einer Winterhochzeit auf einer Händlerversammlung begegnet. Die Braut war siebzehn Jahre alt gewesen, und der Bräutigam sein Freund Prittus, ein alter Nachbar, der ihm die chalcedanische Sprache beigebracht hatte, die er auf Drängen seines Vaters hatte lernen müssen. Er war immer freundlich und geduldig mit Sedric gewesen, und sein Unterricht war geselliger und angenehmer als die Verschlüsselungs-, Geschichts- und Seefahrtsstunden, die er bei einem anderen Lehrer erhielt. Dieser andere war ein Lehrmeister, den eine Gruppe von Händlerfamilien gemeinsam angestellt hatte, um ihren Söhnen Unterricht zu geben. Ein Ungeheuer sondergleichen, und Sedrics Mitschüler traktierten sich entweder gegenseitig mit derbem Spott, oder sie machten sich über Sedrics gewissenhafte Vorträge und Aufsätze lustig. Er verabscheute diese Stunden, und ihm graute vor den Zurechtweisungen und den Herabsetzungen seiner Klassenkameraden. Dass er dort überhaupt etwas gelernt hatte, war ein Wunder. Prittus jedoch war anders gewesen. Er hatte sich als Lehrer um ihn gekümmert und hatte nach Texten gesucht, die seinen Schüler interessierten. Sedric hielt die Stunden bei Prittus in guter Erinnerung.
Umso missmutiger und enttäuschter hatte er mit angesehen, wie Prittus seine Heiratsversprechen ablegte. Von nun an hatte er keine Zeit mehr, um Sedric zu unterrichten. Er würde seinem Vater im Gewürzhandel nachfolgen und hatte all die Pflichten eines jungen Mannes mit einem eigenen Haushalt. Sedrics einziges Eiland der Gesellschaft versank im Ozean seiner Einsamkeit.
In seiner grünen Händlertracht hatte der hochgewachsene Prittus stattlich ausgesehen, und das Kerzenlicht hatte seinem schwarzen Haar Glanz verliehen. Nachdem die Gelübde gesprochen waren, hatte er sich dem Mädchen an seiner Seite zugewandt und ihr mit dem Lächeln ins Gesicht geblickt, das Sedric inzwischen so vertraut war. Vor Freude war das Mädchen errötet. Prittus hatte ihr die Hand gereicht, und sie hatte ihre zierlichen Finger hineingelegt. Da hatte Sedric es nicht mehr mit ansehen können, denn ihn packte würgende Eifersucht auf all das, was ihm auf immer verwehrt sein würde. Das Paar wandte sich den Gästen zu, und Applaus brandete um sie her wie Wellen, die sich bei sanftem Seegang am Ufer brachen.
Sedric hatte nicht geklatscht. Als der Applaus abgeebbt war, hatte er den Schaumwein in seiner Hand hinuntergestürzt und das Glas auf einem der voll beladenen Banketttische abgestellt. Der Raum brummte vor schwatzenden, lachenden Menschen, die dem Brautpaar eifrig gratulieren wollten. Bei der Tür stand eine Gruppe junger Männer, die sich gut gelaunt miteinander unterhielten. Sedric schnappte eine anzügliche Bemerkung über Prittus’ bevorstehende Hochzeitsnacht auf, gefolgt von unflätigem Gekicher. Mit einer Entschuldigung drängte er sich an ihnen vorbei zur Tür und verließ die überfüllte Halle der Händler, um draußen etwas frische Luft zu holen. Er verzichtete darauf, seinen Mantel anzuziehen, denn er wollte den Wind im Gesicht spüren. Sollte ihm nur richtig kalt werden – das passte zu seiner Stimmung.
Ein Sturm braute sich zusammen, der sich nicht zwischen Eisregen und Schneeflocken entscheiden konnte. Der Wind frischte auf und ebbte kurz ab, um mit Graupel wiederzukehren. Die schwarzen Wolken verwandelten den Nachmittag in frühe Abendstunden, doch all das war Sedric egal. Er trat aus dem Schutz der großen Vorhalle heraus und schlenderte an der Reihe wartender Kutschen vorbei, deren Fahrer sich eingemummt hatten. So spazierte er in zunehmender Dämmerung durch die akribisch gepflegte Grünanlage rings um die Halle der Händler.
Zu dieser Jahreszeit waren die Gärten verlassen und trostlos. Die meisten Bäume hatten ihr Laub abgeworfen, und der stürmische Wind fegte ungehindert darüber hinweg. Die Kieswege waren mit altem Laub bedeckt. Am Rand eines vergammelten Kräutergartens wuchsen einige immergrüne Bäume. Instinktiv ging Sedric auf diese Baumgruppe zu, um Schutz vor dem Regen zu suchen. In ihrer Mitte wehte kaum ein Lüftchen. Er hob den Blick zum kalten Winterhimmel und suchte durch die Wolkendecke hindurch nach einem Stern. Aber er fand
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