Rain Wild Chronicles 01 - Drachenhüter
einzig wirklich aufregende Ereignis ihres Lebens gewesen.
Sie hätte wissen müssen, dass sich ihre Träume nicht erfüllen würden. Um sie herum wurden Häuser und Geschäfte wieder aufgebaut, und alle waren verzweifelt darum bemüht, dass alles wieder so wurde wie zuvor. Alle außer Alise. Nachdem sie einen Blick auf eine andere Zukunft erhascht hatte, hatte sie sich vehement gegen ihr erdrückendes Schicksal gesträubt, das sie wieder einzuholen drohte.
Selbst dann noch hatte sie nicht von ihrem Traum gelassen, als Hest Finbok erste Anstalten zeigte, sich ihr zu nähern. Weder die Begeisterung ihrer Mutter noch der Stolz ihres Vaters darüber, dass das Mauerblümchen der Familie nicht nur irgendeinen, sondern gleich auch einen solch formidablen Verehrer gefunden hatte, konnten Alise von ihren Plänen abbringen. Egal, wie sehr ihre Mutter sich erregte und wie freudig ihr Vater strahlte. Alise wusste ohnehin, dass Hests Avancen zu nichts führen würden, und hatte ihnen daher keine Bedeutung beigemessen. Auf derlei törichte, mädchenhafte Träume setzte sie schon lange keine Hoffnungen mehr.
Inzwischen waren es nur noch zwei Tage zum Sommerball der Händler. Er war das erste gesellschaftliche Ereignis, das in der wiederaufgebauten Halle der Händler stattfand. Ganz Bingtown war in heller Aufregung. Um die neuerliche Geburt der Stadt zu würdigen, würden auch Repräsentanten der Tätowierten und der Drei-Schiffe-Leute an der Festlichkeit teilnehmen. Obwohl der Krieg noch nicht zu Ende war, wollte man eine Feier, wie sie die Stadt noch nicht gesehen hatte, und deshalb waren zum ersten Mal auch die normalen Bürger zu dem traditionellen Ball eingeladen. Alise hatte kaum einen Gedanken auf das Ereignis verschwendet, da sie nicht damit gerechnet hatte, dass sie hingehen würde. Schließlich hatte sie die Fahrkarte für die Reise in die Regenwildnis. Während andere heiratsfähige Frauen ihre Fächer flattern ließen und ausgelassen über die Tanzfläche wirbelten, würde sie in Cassarick weilen und zusehen, wie eine neue Drachengeneration aus ihren Kokons schlüpfte.
Doch vor zwei Wochen hatte Hest ihren Vater um die Erlaubnis gebeten, sie zum Ball auszuführen. Und er hatte sie natürlich bekommen. »Und da ich sie ihm nun einmal gegeben habe, mein Mädchen, kann ich sie schlecht wieder zurücknehmen«, hatte ihr Vater Alise erklärt. »Woher sollte ich ahnen, dass du vorhattest, den Regenwildfluss hinaufzufahren, um ein paar großen Echsen beim Schlüpfen zuzuschauen, anstatt an der Hand eines der gefragtesten Junggesellen von Bingtown zum Sommerball zu gehen?« Wie stolz er dabei gestrahlt hatte, als er all ihre Träume zunichte gemacht hatte! Und mit welcher Überzeugung er zu wissen glaubte, was sie im Innersten bewegte! Ihre Mutter hatte sogar ihr Erstaunen geäußert, dass ihr Vater derlei Dinge überhaupt mit seiner Tochter diskutierte. Hatte sie etwa gar kein Vertrauen, dass ihre Eltern wussten, was das Beste für sie war?
Wenn ihre Kehle nicht vor Enttäuschung und Bestürzung wie zugeschnürt gewesen wäre, hätte Alise ihren Eltern darauf etwas entgegnet. Doch stattdessen hatte sie sich umgewandt und war aus dem Zimmer gestürzt. Noch tagelang trauerte sie um die verpasste Gelegenheit. Sie schmollte, wie es ihre Mutter ausdrückte. Das hatte ihre Mutter allerdings nicht davon abgehalten, Schneiderinnen zu bestellen und Bingtowns gesamte Vorräte an rosafarbener Seide und roten Bändern aufzukaufen. Keine Kosten wurden gescheut, um Alise in ein Kleid zu stecken. Was spielte es schon für eine Rolle, dass ihre Träume im Keim erstickt worden waren? Hauptsache, ihre Eltern konnten die ihren verwirklichen, indem sie ihre nutzlose und verschrobene zweite Tochter an den Mann brachten. Selbst in diesen Kriegszeiten, wo man den Gürtel enger schnallen musste, warfen sie fieberhaft Geld hinaus, in der Hoffnung, sie loszuwerden und dabei wichtige Handelskontakte zu knüpfen. Alise war ganz elend gewesen vor lauter Enttäuschung. Schmollen, so hatte es ihre Mutter genannt. War sie nun darüber hinweg?
Ja.
Kurz war sie überrascht. Dann seufzte sie und spürte, wie sie etwas losließ, von dem sie gar nicht gewusst hatte, dass sie sich daran geklammert hatte. Beinahe meinte sie, auf die Ebene herkömmlicher Erwartungen herunterzusinken. Auf eine Ebene, auf der man das ruhige eingezwängte Leben einer anständigen Händlertochter akzeptierte, aus der irgendwann einmal die Gattin eines Händlers werden würde.
Es
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