Rain Wild Chronicles 01 - Drachenhüter
Schwächling war nicht mehr viel übrig. Ein paar rote Rippen, ein tropfender Haufen Eingeweide und ein Stück vom Schwanz. Der Schwache hatte den Starken geholfen, am Leben zu bleiben. Einer der beiden Drachen bemerkte sie. Er hob die blutige Schnauze, bleckte die Zähne und reckte den purpurnen Hals. »Ranculos!«, taufte er sich, und indem er seinen Namen nannte, forderte er sie heraus. Mit seinen silbernen Augen schien er Funken auf sie abzufeuern.
Sie hätte sich zurückziehen sollen. Schließlich war sie ein Krüppel und ein Schwächling. Doch die Art, wie er die Zähne bleckte, weckte Widerstand in ihr. Er hatte nicht das Recht, sie herauszufordern. Ganz und gar nicht. »Sintara!«, fauchte sie zurück. »Sintara!«
Sie machte einen Schritt auf ihn und die Kadaverreste zu, doch dann traf sie ein Windstoß am Rücken. Sie wirbelte herum und senkte abwehrend den Kopf. Es war Tintaglia, die mit frischem Fleisch zurückkehrte. Die Hirschkuh landete praktisch zu Sintaras Pranken. Die braunen Augen des Tiers hatten sich noch nicht getrübt, so frisch war die Beute, und das Blut floss noch aus der Rückenwunde. Ranculos und die kümmerlichen Reste, die er verteidigte, waren auf der Stelle vergessen. Mit einem Satz sprang Sintara auf die Hirschkuh zu.
Dabei hatte sie vergessen, dass ihre Läufe unterschiedlich stark waren. Wieder kam sie ungeschickt auf, doch dieses Mal fing sie sich auf, bevor sie umstürzte, und endete in einer kauernden Stellung. Sogleich streckte sie die Vorderläufe, um die Beute zu sichern. »Sintara!«, zischte sie. Dann beugte sie sich über die Hirschkuh und stieß ein Knurren aus als Warnung an alle, die sie herausfordern wollten. Allerdings klang es schrill und quäkend. Wieder blamierte sie sich. Aber egal: Hauptsache, sie und kein anderer hatte das Fleisch. Sie senkte den Kopf und fiel über die Hirschkuh her, riss ihr wütend den Bauch auf. Ihr Maul füllte sich mit Blut, Fleisch und Innereien – was für eine Wohltat. Krampfhaft umklammerte sie den Kadaver, als wollte sie ihn noch einmal erlegen. Immer, wenn sich ein Fleischstück löste, warf sie den Kopf zurück und schlang es hinunter. Fleisch und Blut. Ein weiteres Mal stieß sie mit dem Kopf hinab und biss ein Stück ab. Sie fraß. Sie würde leben.
Erster Tag des Keimmonds
Erster Tag des Keimmonds
IM SIEBTEN JAHR DER HERRSCHAFT DES ERLAUCHTEN
UND PRÄCHTIGEN SATRAPEN COSGO
IM ERSTEN JAHR DES UNABHÄNGIGEN HÄNDLERBUNDS
Von Erek, Vogelwart in Bingtown,
an Detozi, Vogelwart in Trehaug
Detozi,
bitte lasst einen Schwarm von mindestens fünfundzwanzig Tauben fliegen, auch wenn Ihr derzeit keine Nachrichten zu versenden habt. Nach Trehaug sind derart viele Briefe gegangen, weil unzählige Händler mitteilen wollten, dass sie dem Schlüpfen der Drachen beiwohnen würden, dass ich kaum noch Vögel in meinem Schlag habe.
Erek
3 · Ein vorteilhaftes Angebot
3
Ein vorteilhaftes Angebot
A lise. Du hast Besuch.«
Langsam schlug Alise die Augen auf. Ihre Zeichenkohle schwebte über dem schweren Papier, das auf dem Tisch ruhte. »Jetzt?«, fragte sie widerwillig.
Ihre Mutter seufzte. »Ja. Jetzt. Genau das ›Jetzt‹, das ich dir nun schon tagelang angekündigt habe. Du wusstest doch, dass Hest Finbok kommen würde. Das weißt du, seit er dich vor genau einer Woche zur selben Stunde besucht hat. Alise, dass er dir den Hof macht, ist eine Ehre für dich und unsere ganze Familie. Du solltest ihn stets freundlich empfangen. Stattdessen aber muss ich dich jedes Mal aus deinem Versteck zerren, wenn er dir die Aufwartung macht. Ich wünschte, du würdest dir merken, dass man jungen Männern, die einem die Aufwartung machen, Höflichkeit und Achtung entgegenbringt.«
Alise legte die Zeichenkohle weg. Als sie die beschmierten Finger an einem feinen, mit sevianischen Spitzen besetzten Halstuch abwischte, zuckte ihre Mutter zusammen. Es war eine winzige Geste der Rache. Denn das Halstuch war ein Geschenk von Hest. »Nicht zu vergessen, dass er mein einziger Verehrer ist und somit meine einzige Aussicht darstellt, einen Gatten zu bekommen.« Sie sprach so leise, dass ihre Mutter sie fast nicht hören konnte. Mit einem Seufzer fügte Alise hinzu: »Ich komme ja schon, Mutter. Und ich werde freundlich sein.«
Da schwieg ihre Mutter für einen Moment. »Das ist klug von dir«, sagte sie schließlich und setzte mit kühler, aber immer noch sanftmütiger Stimme hinzu: »Ich bin froh, dass du endlich nicht mehr schmollst.«
Alise wusste
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