Rain Wild Chronicles 01 - Drachenhüter
nicht recht, ob ihre Mutter damit aussprach, was sie für eine Tatsache hielt, oder ob sie ihre Tochter damit zu einem bestimmten Verhalten ermuntern wollte. Kurz schloss sie die Augen. Heute, im Norden, in den Tiefen der Regenwildnis, schlüpften die Drachen aus ihren Kokons. Na ja, verbesserte sie sich, heute ist der Tag, an dem Tintaglia das Laub und den Schutt von den Hüllen fegen lässt, damit die Sonne darauf scheint und die Drachen darin erwachen. Womöglich geschah es gerade in diesem Augenblick, da sie in ihrem hellen Zimmer den kleinen Tisch ordnete, der voller zerknitterter Schriftrollen und ihren kläglichen Skizzen- und Zeichenversuchen lag. Vielleicht schoben und zwängten sich in dieser Sekunde Drachen aus ihren Kokons.
Für einen Moment konnte sie das Geschehen beinahe vor sich sehen: Das grüne, von der Sonne aufgeheizte Flussufer, die in allen Farben funkelnden Drachen, die freudig jubilierend ans Tageslicht krochen. Wahrscheinlich würden die Regenwildhändler die Ankunft der Drachen mit allerlei Festivitäten begehen. Sie stellte sich eine mit Girlanden und fremdartigen Blumen geschmückte Bühne vor. Zu Ehren der jungen Drachen würde man Ansprachen halten, singen und ein Festmahl ausrichten. Zweifellos würde jeder Drache vor der Tribüne entlangschreiten, wo er freudig vorgestellt werden würde. Danach würde er seine glitzernden Schwingen ausbreiten und sich in die Lüfte erheben. Es waren die ersten Drachen, die seit Sa weiß wie lange geschlüpft waren. Drachen waren in die Welt zurückgekehrt … und währenddessen versauerte sie hier in Bingtown, gefangen in ihrer Wohlanständigkeit und der Aufwartung eines Verehrers ausgeliefert, die sie verblüffte und zugleich verdross.
Plötzlich vermochte sie die Enttäuschung nicht mehr zu ertragen. Seit sie von der bevorstehenden Verwandlung der Seeschlangen gehört hatte, hatte sie davon geträumt, zu den Drachen zu reisen, um sie schlüpfen zu sehen. Sie hatte ihren Vater angefleht, doch der hatte ihr gesagt, dass es sich für jemanden wie sie nicht ziemte, allein zu reisen. Darauf hatte sie die Frau ihres jüngeren Bruders umgarnt und bestochen, bis diese sich einverstanden erklärt hatte, dass ihr Mann sie begleitete. Heimlich hatte Alise ein paar Sachen aus ihrer Aussteuertruhe verkauft, um das Geld für die Reise zusammenzubekommen. Ihren Eltern hatte sie vorgeflunkert, dass sie ihr schmales monatliches Taschengeld dafür angespart hätte. Die kostbare Schiffsfahrkarte steckte noch immer im Rahmen ihres Schminkspiegels. Seit Wochen hatte sie jeden Tag das steife cremefarbene Papierrechteck vor Augen gehabt, auf dem ihr ein Beamter mit krakeliger Schrift die Bezahlung einer Hin- und Rückreise für zwei Personen bestätigt hatte. Dieses Stück Papier war ein Versprechen für sie gewesen. Das Versprechen, dass sie das sehen würde, von dem sie so viel gelesen hatte. Dass sie Zeugin eines Ereignisses werden würde, das den Lauf der Geschichte mit Sicherheit ändern würde. Sie hätte Skizzen davon gemacht und alles akribisch aufgeschrieben, um ihre jahrelangen Studien mit den Beobachtungen aus erster Hand zu bereichern. Dann wäre ihr Wissen endlich einmal gewürdigt worden, und man hätte zugeben müssen, dass sie mehr war als nur eine schrullige alte Jungfer, die von Drachen und ihren Gefährten, den Elderlingen, besessen war. Denn sie war eine Gelehrte.
Dann hätte sie etwas Eigenes gehabt, dann wäre die erbärmliche Existenz, zu der ihr Leben in Bingtown geworden war, doch noch zu etwas gut gewesen. Schon vor dem Krieg war ihre Familie dem finanziellen Ruin nahe gewesen. Sie lebten äußerst schlicht, in einem bescheidenen Gutshaus in einer wenig angesehenen Gegend Bingtowns. Kein großzügiger Park umgab ihr Heim, nur ein mickriger Rosengarten, um den sich ihre Schwester kümmerte. Ihr Vater hielt die Familie über Wasser, indem er Handelsgeschäfte zwischen den reichen Familien vermittelte. Doch als der Krieg ausgebrochen war und der Handel stockte, vermochte ein kleiner Verbindungsmann wie er nicht mehr viel Geld zu machen. Alise war vollkommen bewusst, dass sie ein schlichtes Mädchen aus einer schlichten Familie war, die ohne Zweifel den ärmsten Kreisen der Bingtown-Händler angehörte. Damit war sie zu keiner Zeit eine »gute Partie« gewesen. Dass ihre Mutter bis zu ihrem achtzehnten Geburtstag gewartet hatte, um Alise in die Gesellschaft einzuführen, hatte ihre Aussichten auch nicht verbessert. Die Gründe dafür hatte Alise
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