Rain Wild Chronicles 01 - Drachenhüter
gebührte. Das Recht, in schweren Zeiten an erster Stelle zu überleben. Sie holte so tief Luft wie nur möglich und rief einen Namen. »Tintaglia!«
Ihre Kiemen waren zu sehr ausgetrocknet, und vom Auswürgen des rauen Lehms war ihre Kehle wund. Der Hilferuf, der Befehl, der aus ihrem Maul drang, war kaum mehr als ein Flüstern. Inzwischen hatte sie nicht einmal mehr genug Kraft, um aus der Hülle auszubrechen. Ihre Kraft war unwiederbringlich dahin. Sie würde sterben.
»Bist du in Not, du Schöne? Ich fühle deine Verzweiflung. Kann ich dir helfen?«
Eingesponnen in den Kokon, konnte Sisarqua den Kopf nicht wenden. Nur die Augen vermochte sie zu verdrehen, und sie erkannte, wer zu ihr gesprochen hatte. Ein Elderling. Zwar war er sehr klein und jung, doch als ihr Geist mit seinem in Berührung kam, wusste sie mit Sicherheit, wer er war. Obwohl seine Gestalt einem gewöhnlichen Menschen glich, war er doch keiner.
Ihre Kiemen waren trocken. Für eine gewisse Zeit vermochten Seeschlangen, das Wasser zu verlassen und sogar zu singen. Aber so lange an der kalten Luft zu bleiben, ging an die Grenzen ihrer Fähigkeit, in der Leere zu überleben. Mühsam holte sie Atem. Ja. Sie schnappte seine Witterung auf und wusste sofort, dass Tintaglia diesen Elderling geprägt hatte. Er war voll von ihrem Zauber. Langsam schob Sisarqua die Lider über die Augen und öffnete sie wieder. Trotzdem konnte sie ihn noch immer nicht klar erkennen. Sie trocknete zu schnell aus. »Ich kann nicht«, sagte sie. Mehr brachte sie nicht heraus.
Sie spürte die Verzweiflung, die in ihm aufstieg. Kurz darauf hörte sie den Schreckensruf seines kleinen Stimmchens. »Tintaglia! Diese hier hat Schwierigkeiten! Sie kann ihre Hülle nicht vollenden. Was sollen wir tun?«
Von der anderen Seite der Reifegründe donnerte die Stimme der Drachin herüber. »Den Lehmbrei, mach ihn sehr feucht! Gieß ihn hinein. Zögere nicht. Bedecke ihren Kopf damit und streiche ihn über die offene Stelle der Hülle. Versiegle sie, aber achte darauf, dass die unterste Schicht sehr feucht ist.« Noch während sie sprach, eilte die Drachin selbst zu Sisarqua. »Ein Weibchen! Sei stark, kleine Schwester. Nur wenige werden als Königinnen schlüpfen. Du musst eine von ihnen sein.«
Die Arbeiter waren herbeigeeilt. Einige zogen Karren, andere schleppten Eimer, aus denen silbrig-grauer Schlick schwappte. Sisarqua zog, so gut es ging, den Kopf ein und schloss die Augen. Draußen rief der junge Elderling Anweisungen. »Jetzt sofort! Wartet nicht auf Tintaglia! Jetzt, denn ihre Augen und die Haut trocknen zu schnell aus. Überschüttet sie mit Lehm. Ja, so ist es gut! Noch mehr! Noch einen Eimer! Mach den Karren noch einmal voll. So beeil dich doch, Mann!«
Der flüssige Lehm schwappte über Sisarqua herein, benetzte sie und versiegelte die Lücke. Allmählich wirkte das Gift, das sie in die Hülle gewoben hatte, auf sie selbst. Sie versank zwar nicht in Schlaf, aber doch in einen Zustand der Ruhe. O welch ein Segen war diese Ruhe!
Sie spürte, dass Tintaglia neben ihr war. Dann war da plötzlich die Wärme und das Gewicht weiteren Lehmbreis. Voller Dankbarkeit begriff sie, dass Tintaglia ihn hervorgewürgt hatte und ihre Hülle verstärkte. Kurz brannten Gifte voller Erinnerungen auf ihrer Haut. Nicht nur die Drachenerinnerungen Tintaglias, sondern auch ein Teil der Weisheit der Schlange, die die Drachin kürzlich verschlungen hatte, lagerten sich in ihrer Hülle ab. Gedämpft hörte sie, wie Tintaglia die hastenden Arbeiter anwies. »Hier ist ihre Hülle zu dünn. Da drüben auch. Holt Lehm herbei und streicht ein paar Schichten darauf. Dann bedeckt ihr die Hülle mit Laub und Ästen, damit sie gut gegen Licht und Kälte geschützt ist. Sie sind spät dran. Die Sonne dürfen sie erst spüren, wenn der Sommer gekommen ist, denn ich fürchte, im Frühling werden sie noch nicht voll entwickelt sein. Und wenn ihr hier fertig seid, kommt ihr ans Ostende des Strands. Dort kämpft noch eine Schlange.«
Da drang die Stimme des Elderlings in Sisarquas scheidendes Bewusstsein. »Haben wir sie noch rechtzeitig versiegelt? Wird sie überleben?«
»Das weiß ich nicht«, gab Tintaglia ernst zurück. »Es ist schon spät im Jahr, die Schlangen sind alt und müde, und die Hälfte von ihnen ist beinahe verhungert. Ein paar aus der ersten Welle sind schon in ihren Hüllen gestorben. Andere mühen sich noch den Fluss herauf oder durch die Becken. Viele von ihnen werden sterben, noch ehe
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