Rain Wild Chronicles 01 - Drachenhüter
Den Waldboden entlang des Flusses hatte das Licht der Dämmerung noch kaum erreicht. Durch tausend junge Blätter hindurch sickerte Licht herab, doch bevor es den Boden erreichte, hatte es seine Wärme bereits eingebüßt. Wenn die Sonne höher stieg, würde sie direkt auf den offenen Fluss scheinen und sich mit ihren Strahlen unter das Blätterdach und zwischen die Baumstämme tasten. Doch so weit war es noch nicht. Das würde erst in ein paar Stunden geschehen.
Leftrin streckte sich und ließ die Schultern kreisen. Sein Hemd klebte ihm unangenehm am Körper. Nun ja, es geschah ihm recht, dass es unangenehm war. Wenn einer aus seiner Mannschaft so närrisch gewesen wäre, an Deck einzuschlafen, hätte er ihm genau das gesagt. Doch keiner von ihnen hatte es getan. Alle elf Männer lagen in ihren schmalen Kojen, die sich an der Rückwand des Deckshauses übereinanderreihten. Nur seine eigene, geräumigere Koje war leer. Wie dumm.
Es war noch zu früh, um aufzustehen. In der Bordküche glomm nur die schwache Glut vom Vortag, kein Teewasser kochte, keine Brotfladen rösteten auf dem Grill. Und doch war er schon auf und hellwach. Ihm war nach einem Spaziergang unter den Bäumen zumute. Es war ein sonderbarer Wunsch, für den er keine vernünftige Erklärung hatte. Trotzdem war ihm bewusst, weshalb es ihn dorthin zog – es hatte etwas mit dem Traum der letzten Nacht zu tun. Er versuchte, ihn sich ins Gedächtnis zu rufen, aber die zerfledderten Fäden verwandelten sich in Spinnweben, wenn er sie sich ins Bewusstsein bringen wollte. Und dann lösten sie sich ganz auf. Nichtsdestotrotz folgte er dem Impuls seines Unterbewusstseins. Es hatte ihm noch nie geschadet, wenn er derartigen Ahnungen gefolgt war, und die wenigen Male, wo er es nicht getan hatte, hatte er es später bereut.
Er ging ins Deckshaus, an der schlafenden Mannschaft vorbei und durch die kleine Kombüse in seine Kabine. Dort tauschte er sein Bordschuhwerk gegen Festlandstiefel. Die kniehohen Stiefel aus gefettetem Ochsenleder waren fast völlig durchgescheuert, denn das ätzende Wasser des Regenwildflusses setzte Schuhwerk, Kleidern, Holz und Haut ordentlich zu. Ein oder zwei Ausflüge aufs Festland würden seine Stiefel aber noch aushalten, und seine Haut auch. Er nahm seine Jacke vom Haken und warf sie sich über die Schultern. Dann ging er wieder an seinen Männern vorbei. Sachte trat er gegen das Fußende der Koje des Steuermanns. Swarges Kopf ruckte nach oben, und er sah Leftrin verschlafen an.
»Ich gehe an Land, mir die Beine vertreten. Wahrscheinlich bin ich zum Frühstück wieder zurück.«
»Aye«, sagte Swarge. Dies war nicht nur die nahezu einzige zulässige Antwort, sondern auch so ziemlich das Äußerste, was Swarges Konversationstalent hergab. Zur Bekräftigung stieß Leftrin ein Grunzen aus und verließ das Deckshaus.
Am Abend zuvor hatten sie den Kahn halb ans sumpfige Ufer gezogen und an einem großen Baum festgebunden, der weit übers Wasser ragte. Leftrin sprang vom stumpfen Bug des Boots herunter und landete zwischen schlammverkrusteten Schilfhalmen. Die auf den Bug gemalten Augen starrten in das Dunkel zwischen den Bäumen. Vor zehn Tagen hatten warme Winde und stürmischer Regen den Regenwildfluss anschwellen lassen. Das Wasser war über die Ufer getreten. Während der letzten zwei Tage war die Flut zurückgegangen, doch der Bewuchs entlang des Flusses hatte sich noch nicht der Schlammschicht entledigt, die sich während der tagelangen Überschwemmung darauf abgelagert hatte. Das Schilf war mit Lehm überzogen, und die Gräser lagen unter seiner Last platt gedrückt. Noch immer fanden sich entlang des Ufers vereinzelte Tümpel, Reste der Überschwemmung. Leftrin stapfte an ihnen vorbei, und in den Abdrücken, die er hinterließ, sammelte sich das Wasser.
Er wusste nicht, wohin er ging und warum. Er folgte lediglich einer Laune, als er sich vom Ufer entfernte und tiefer in die Schatten zwischen den mit Ranken bewachsenen Stämmen wanderte. Hier waren die Spuren der kürzlichen Überschwemmung noch deutlicher. Zwischen den Stämmen hatte sich Treibholz verkeilt, und in den Bäumen und Sträuchern hingen Knäuel aus Laub, Schlamm und abgerissenen Ranken. Auf dem dicken Moospolster und den niedrigen Bodengewächsen hatte sich eine frische Schlammschicht abgelagert. Zwar hielten die mächtigen Stämme der riesigen Bäume, die das Dach der Regenwildnis trugen, den meisten Flutwellen stand, doch das Gestrüpp, das in seinem Schatten
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