Raine der Wagemutige
hatte er getan, um Carr aufzustacheln, zu reizen, aus der Fassung zu bringen - kurz, um ihm Unbehagen zu bereiten; um irgendeine, wie auch immer geartete Reaktion hervorzurufen.
Raine lächelte wehmütig. Noch vor fünf Jahren hätten solche Erinnerungen Bitterkeit in ihm geweckt. Aber auf der anderen Seite war Carr zu der Zeit auch noch von Bedeutung für ihn gewesen. Seitdem waren jedoch die Prioritäten in seinem Leben gewaltsam neu geordnet worden. Raine scherte sich nicht länger um Carr, nicht einmal genug, um ihn zu hassen.
Gleichgültig musterte er seinen Vater. Er sah immer noch gut aus und hielt sich immer noch gerade, seine Bewegungen zeugten wie eh und je von anmutiger Eleganz. Seine Gesten waren so geschmeidig wie immer, und seine unergründliche Miene verriet keine Regung. Aber selbst aus dieser Entfernung konnte Raine erkennen, dass die einst straffe Haut in seinem Gesicht jetzt leicht erschlafft war, und ein paar Falten hatten sich unter dem geraden Kinn gebildet, die ersten Anzeichen für Tränensäcke zeigten sich unter den schönen Augen. Noch nicht einmal Carrs eisernem Willen war es gelungen, von dem Zoll, den die Jahre forderten, verschont zu bleiben.
Raines Blick wanderte über die Menge, bis er Favor fand. Unzählige Ellen leuchtend narzissengelber Seide waren für den bauschigen Rock verarbeitet worden, während das Oberteil ihre aufrechte Figur eng umschloss. Das lichtschluckende Schwarz ihrer gefärbten Haare wirkte wie Kohlenstaub auf ihrem weißen Busen. Sie glitt unbeirrt, ohne nach links oder rechts zu sehen, durch die Menge, gerade so, als ob sie einen langen, schmalen Korridor ohne Fenster und Türen entlangschritt, an dessen weit entferntem Ende der einzige Ausgang lag.
Das konnte man kaum als herausforderndes Benehmen bezeichnen, und doch erregte sie nicht wenig Aufmerksamkeit. Unter den Bewegungen von Carrs männlichen Gästen zeichnete sich ein Muster ab. Hinter Favor bildete sich eine Art lebendige Schleppe - unbestritten sammelte Favor ein Gefolge.
Er konnte nachvollziehen, dass die Männer dort unten Favor reizvoll fanden. Es war etwas an ihr. Etwas, das über eine begehrenswerte Figur hinausging - auch wenn sie die, bei Gott, ebenfalls besaß. Und, so musste er einräumen, ihr Gesicht war alles andere als unansehnlich. Irgendetwas an ihr forderte einen Mann heraus oder weckte seine Aufmerksamkeit oder erregte ihn oder . . .
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Erregte?
Er hatte zu lange im Gefängnis gesessen. Das war die einzig mögliche Erklärung für sein Interesse an Favor McClairen. Weil sie ihm das Leben gerettet hatte, neigte er dazu, sie mit Eigenschaften auszustatten, die sie wahrscheinlich gar nicht besaß.
Falls Favor in mir überhaupt irgendetwas erregt, dann ist das Lust, entschied er. Und es war verflucht ärgerlich, dass die Frau, deren Röcke er so verzweifelt hochschlagen wollte, ausgerechnet den Namen McClairen tragen musste. Es machte alles komplizierter. In ihm rangen Pflichtgefühl und Verlangen miteinander.
Das Pflichtgefühl würde gewinnen. Schließlich war in der Schuld eines anderen Menschen zu stehen - und besonders in der von jemandem, den er ehren musste - für ihn eine neuartige, einmalige Erfahrung. Wollust hingegen war es nicht.
Einmal mehr richtete er seine Aufmerksamkeit auf Favor. Die matronenhafte Gestalt neben ihr musste ihre Anstandsdame sein. Auf den ersten Blick konnte er sich keinen weniger wirkungsvollen Drachen zur Verteidigung dieser besonderen Schönen in Nöten vorstellen. Aber ein genauer Blick zeigte ihm, dass sein erster Eindruck getrogen hatte. Nur wenigen der Männer, die Favor folgten, gelang es, bis an ihre Seite vorzudringen. Ganz offensichtlich wurden nur diejenige vorgelassen, die bestimmte Grundvoraussetzungen erfüllten - entweder die der alten Dame oder von Favor selbst. Welche das wohl waren?
Was auch immer ihr Maßstab ist, dachte Raine trocken, mein Name wird es bestimmt nicht auf die Liste mit den gebilligten Verehrern schaffen. Aber auf der anderen Seite hatte er es gar nicht nötig, Favor McClairen nachzujagen. Sie käme - er zog seine Taschenuhr hervor - in ungefähr zehn Stunden von allein zu ihm.
„Hier ist Euer Essen“, sagte Favor trotzig. Sie warf Rafe die zusammengeknotete Serviette zu und malte sich aus, wie deren fettiger Inhalt einen ordentlichen Fleck auf seinem weißen Hemd hinterlassen würde.
Sie hatte nicht damit gerechnet, dass der Grobian so rasche Reflexe haben könnte. Er wandte sich von dem Fenster ab, vor
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