Raine der Wagemutige
genau das getan hatte, um in Fleisch und Blut zu ihm zurückzukehren
- wenn sie wirklich eine neue Hülle für ihren Geist gefunden hatte, dann musste er es herausfinden, bevor er diese verfluchte Burg ein für alle Mal verließ.
Ganz offensichtlich hatte sie ihren Schal zurückgelassen, um ihm eine Art Botschaft zu übermitteln. Aber was? Hatte in dieser Geste ein Vorwurf gelegen?
Carr hob den Deckel der Truhe, die unter dem Bild stand. Sie enthielt etwas Gold, ein paar Juwelen und die Überreste des Anstoß erregenden Arisaid.
In der Nacht, in der Janet ums Leben gekommen war, hatte er die erste Gesellschaft auf Wanton's Blush nach der Umgestaltung der Burganlage gegeben. Die wichtigsten Mitglieder der gehobenen Gesellschaft hatten die beschwerliche Anreise von London auf sich genommen, um daran teilnehmen zu können. Unter ihnen war der Privatsekretär des Königs gewesen. Die Schwierigkeiten hatten begonnen, als er gegangen war, seine wunderschöne Frau zu suchen, kurz bevor ihre Gäste zum Dinner herunterkommen sollten.
Er hatte sie auf den Klippen gefunden - zusammen mit ihren Bälgern. Offensichtlich war sie schließlich doch über die Tatsache gestolpert, dass er nicht ganz unschuldig war an den . . . Schwierigkeiten ihres Clans. In ihrem Groll hatte sie geschworen, die Farben ihrer Familie zu seiner Gesellschaft zu tragen, um ihre Verbundenheit mit den McClairen zu demonstrieren, obwohl sie sehr gut wusste, dass das Tragen der Clansfarben vom Gesetz strengstens verboten war. Und das, wo der Sekretär des Königs anwesend sein würde!
Sie hatte ihr Schicksal selbst besiegelt.
„Ganz ehrlich, Janet“, sprach er zu ihrem Abbild, „war es nicht ein besonderer Zufall, dass du genau an dem Tag hinter meine ,Falschheit gekommen bist, an dem ich zu der Gesellschaft geladen hatte, die sehr gut die wichtigste in meinem Leben hätte sein können? Ja.“ Er nickte. „Du hättest dich am besten gleich selbst die Klippen hinabgestürzt, anstatt mich zu zwingen, dich zu stoßen. Du hast es getan, um meine Gesellschaft zu ruinieren. Aber ich habe deinen kleinen Plan vereitelt, nicht wahr, meine Liebe?“
Müßig befingerte er das seidene Arisaid.
„Was hast du damit gemeint, dass du das hier für mich zurückgelassen hast? Subtil bist du doch nie gewesen. Eher schon ermüdend geradeheraus, wenn du die Wahrheit wissen willst. Also, was soll das hier alles?“
Nachdenklich ließ er das zerrissene Stück Schal vor dem Bild hin und her schwingen. Wenn sie in jener Nacht nicht gestorben wäre, hätte er nicht diese anderen Erbinnen ehelichen müssen; er hätte deren Ableben nicht herbeiführen müssen und wäre nicht als Folge davon in diese Einöde verbannt worden.
Janet hatte wirklich einiges zu verantworten.
Es konnte sogar sein, dass sie ihre Schuld eingesehen hatte. „Hast du mir das hier als eine Art Entschuldigung dagelassen? So in etwa: ,Hier nimm das verfluchte Ding. Es hat genug Kummer verursacht*?“
Diese Erklärung gefiel ihm. „Das macht Sinn. Ich meine, man lässt nicht ausgerechnet einen Schal zurück, um jemandem einen Schrecken einzujagen, oder? Ich meine, um Himmels willen, es ist ja nur ein Schal, nicht ein blutiger Augapfel oder ein noch zuckendes Herz oder irgend so ein Unsinn.“
„Meine Güte, Vater, bitte warnt mich vor, solltet Ihr Euch jemals daran versuchen, irgendjemandem einen Schrecken einzujagen. Ich werde mich dann augenblicklich zurückziehen“, ertönte eine seidenweiche Frauenstimme hinter ihm. Carr fuhr herum.
Fia stand auf der Türschwelle, ihre Hände an der Taille eines außerordentlich gewagten Kleides aufs Anmutigste gefaltet. Eine andere junge Frau hätte in einer solchen Aufmachung wie eine teure Dirne ausgesehen. Wenn Fia es jedoch trug, fiel einem nur das Mitternachtsblau der Seide auf.
Vater und Tochter betrachteten einander schweigend. Unter der dünnen Schicht Schminke waren Fias Züge vollkommen beherrscht. Er hatte einmal eine orientalische Puppe gesehen, eine Porzellandarstellung einer Figur aus einem Theaterstück. Es war eine feine, wirklichkeitsgetreue Abbildung gewesen, feiner als alle anderen, die er je zu Gesicht bekommen hatte. Aber etwas daran, in einer Puppe abgebildet zu sehen, was letztendlich wieder nur eine lebendige Puppe war, hatte etwas Unheimliches gehabt, wie wenn man das Spiegelbild eines Spiegelbildes sieht. Seine Tochter anzusehen vermittelte ihm ein ähnliches Gefühl.
„Wie lange stehst du da schon und spionierst mir nach?“
Weitere Kostenlose Bücher