RAMSES 1 - Der Sohn des Lichts
größten zu. Er
kannte ihr Verhalten. Lotos lief barfüßig hinter ihm. Trotz ihrer Erfahrung und
Unerschrockenheit wollte er sie nicht der geringsten Gefahr aussetzen. Die
hübsche Nubierin trug eine Astgabel als Stock, einen Leinenbeutel und ein
Glasröhrchen. Das Reptil auf den Boden zu pressen, damit es Gift spuckte, war
ein Kinderspiel.
Der Vollmond erhellte die Wüste. Er erregte die
Schlangen, so daß sie sich weit vorwagten. Setaou sang leise vor sich hin,
wobei er die tiefen Töne, die den Kobras schmeichelten, besonders hervorhob. Er
hatte eine Stelle ausgemacht, wo sich zwischen zwei flachen Steinen eine
Höhlung zeigte und der Sand sich wellte. Hier mußte ein riesiges Reptil
vorbeigezogen sein.
Setaou setzte sich und sang beharrlich weiter. Die
Kobra ließ auf sich warten.
Lotos warf sich kopfüber in den Sand, wie eine
Schwimmerin in einen Fluß. Setaou stutzte und sah, wie sie mit der schwarzen
Kobra rang, der er aufgelauert hatte. Der Kampf währte nicht lange, und die
Nubierin stopfte das Tier in den Beutel.
»Sie wollte dich von hinten angreifen«, erklärte
Lotos.
»Das ist völlig ungewöhnlich«, befand Setaou. »Wenn
die Schlangen den Kopf verlieren, steht ein Erdbeben bevor.«
DREIUNDFÜNFZIG
» denn wir
werden nicht ruhen«, deklamierte Homer, »und wäre es nur für ein
Weilchen, bis die nahende Nacht den Mut der Männer gebrochen. Triefen wird
manchem das Wehrgehenk des beschützenden Schildes über der Brust von Schweiß
und starren die Hand an der Lanze.«
»Künden diese Verse deiner Iliasvon einem neu
aufflammenden Krieg?« fragte Ramses.
»Ich spreche nur von der Vergangenheit.«
»Ist das keine Vorahnung der Zukunft?«
»Ägypten beginnt mich zu betören. Ich würde es ungern
ins Chaos sinken sehen.«
»Woher dann diese Furcht?«
»Ich habe immer noch ein Ohr für meine Landsleute.
Ihre augenblickliche Aufregung beunruhigt mich.«
»Weißt du Genaueres?«
»Ich bin nur ein Dichter, und mein Augenlicht wird
zunehmend schwächer.«
Helena dankte Königin Tuja, daß sie ihr in dieser so
schmerzlichen Zeit eine Begegnung gewährte. Auf dem vollendet geschminkten
Antlitz der großen königlichen Gemahlin war keine Spur von Leid zu erkennen.
»Ich weiß nicht, wie…«
»Worte sind überflüssig, Helena.«
»Mein Kummer ist aufrichtig, ich bete zu den Göttern,
daß der König genesen möge.«
»Hab Dank dafür, Helena. Auch ich flehe zum Unsichtbaren.«
»Ich bin besorgt, so besorgt.«
»Was fürchtest du?«
»Menelaos ist so fröhlich, zu fröhlich. Er, der sonst
so finster ist, scheint zu jubilieren. Folglich ist er überzeugt, mich bald
nach Griechenland zurückzubringen!«
»Selbst wenn Sethos sterben sollte, genießt du hier
Schutz.«
»Ich fürchte das Gegenteil, Majestät.«
»Menelaos ist mein Gast. Er hat keinerlei
Entscheidungsbefugnis.«
»Ich möchte hierbleiben, in diesem Palast, in deiner
Nähe!«
»Beruhige dich, Helena. Du hast nichts zu fürchten.«
Trotz der besänftigenden Zusicherungen der Königin
fürchtete Helena Menelaos’ Bosheit. Sein Verhalten bewies, daß er etwas im
Schilde führte, um seine Frau aus Ägypten herauszuholen. Wäre Sethos’
Dahinscheiden nicht die beste Gelegenheit? Helena beschloß, das Treiben ihres
Mannes zu beobachten. Vielleicht war sogar Tujas Leben in Gefahr. Wenn Menelaos
nicht bekam, was er begehrte, wurde er gewalttätig. Und diese Gewalttätigkeit
hatte er lange nicht mehr ausleben dürfen.
Ameni las den Brief, den Dolente an Ramses geschrieben
hatte:
»Mein geliebter Bruder,
mein Gemahl und ich machen uns Sorge wegen Deiner
Gesundheit und mehr noch wegen der unseres verehrten Vaters, des Pharaos
Sethos. Gerüchte besagen, er sei schwer erkrankt. Ist der Zeitpunkt des
Verzeihens nicht gekommen? Mein Platz ist in Memphis. Im Vertrauen auf Deine
Güte bin ich überzeugt, daß Du die Verfehlung meines Gemahls vergessen und ihm
gestatten wirst, an meiner Seite Sethos und Tuja seine Liebe zu bekunden. In
diesen schweren Stunden müssen wir einander beistehen. Ist das Wichtigste
nicht, wieder eine geschlossene Familie zu bilden, anstatt an Vergangenem
festzuhalten?
Im Vertrauen auf Deine Nachsicht harren Sary und ich
mit Ungeduld Deiner Antwort.«
»Lies ihn noch einmal langsam vor«, befahl der Regent.
Ameni tat es, er war erregt.
»Ich«, brummte er, »würde nicht antworten.«
»Nimm ein neues Blatt Papyrus.«
»Sollen wir etwa nachgeben?«
»Dolente ist meine Schwester,
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