RAMSES 1 - Der Sohn des Lichts
nährte
das Land.
Um ihn wohlwollend zu stimmen, opferte Sethos dem Fluß
vierundfünfzig Krüge Milch, dreihundert Brote, siebzig Kuchen, achtundzwanzig
Näpfe Honig, achtundzwanzig Körbe Weintrauben, vierundzwanzig Körbe Feigen,
achtundzwanzig Körbe Datteln sowie Granatäpfel, Avocados, Jojobas, Gurken und
Bohnen, Tonfigürchen, achtundvierzig Krüge Weihrauch, Gold, Silber, Kupfer,
Alabaster und Kuchen in Form von Kalb, Gans, Krokodil und Flußpferd.
Drei Tage später war der Wasserspiegel gestiegen, aber
noch immer unzureichend. Es blieb nur noch eine winzige Hoffnung.
Das Haus des Lebens von Heliopolis war das älteste
Ägyptens. Dort wurden die Schriften über die Geheimnisse von Himmel und Erde,
die geheimen Rituale, die Himmelskarten, die Annalen der Königshäuser, die
Verheißungen, die Göttersagen, die Aufzeichnungen aus Medizin und Chirurgie,
die Abhandlungen über Mathematik und Geometrie, Hinweise zur Traumdeutung, die
Handbücher zur Baukunst, Bildhauerei und Malerei, die Listen des für jeden
Tempel notwendigen Ritualgeräts, der Festtagskalender, Sammlungen mit
Zauberformeln, die von den Alten verfaßten »Weisheitslehren« und die
Spruchsammlungen zur »Verwandlung in Licht«, die das Reisen in der anderen Welt
begleiteten, sorgfältig aufbewahrt.
»Für einen Pharao gibt es keinen wichtigeren Ort«,
erklärte Sethos. »Sobald dich Zweifel befällt, komm hierher, und befrage die
Archive. Das Haus des Lebens ist die Vergangenheit, die Gegenwart und die
Zukunft Ägyptens. Nimm seine Lehren in dich auf, dann wirst du sehend werden
wie ich.«
Sethos bat den Vorsteher des Hauses, einen alten
Priester, der der Außenwelt entsagt hatte, ihm das »Nilbuch« zu bringen. Einer
der Tempelhüter übernahm diese Aufgabe. Ramses erkannte ihn.
»Bist du nicht Bakhen, der Aufseher der königlichen
Stallungen?«
»Ich war es einmal und erfüllte gleichzeitig meinen
Auftrag als Tempeldiener. Seit meinem einundzwanzigsten Geburtstag habe ich
meine weltlichen Ämter niedergelegt.«
Der stämmige Bakhen mit dem eckigen und häßlichen
Gesicht, das nun kein Kurzbart mehr verhärtete, mit den muskulösen Armen und
der tiefen und heiseren Stimme glich wahrlich keinem Gelehrten, der sich in die
Weisheit der Alten zu versenken pflegte.
»Unterschätze diesen Mann nicht«, empfahl Sethos. »In
wenigen Wochen wird er nach Theben aufbrechen und Dienst im Amun-Tempel von
Karnak versehen. Dort wirst du ihm immer wieder begegnen.«
Der König las das ehrwürdige Nilbuch, das einer seiner
Vorgänger aus der dritten Dynastie vor mehr als dreizehnhundert Jahren verfaßt
hatte. Geprägt von tiefem Wissen um den Nil, verriet es, was bei zu niedrigem
Wasserstand zu tun war.
Sethos verstand. Das Opfer am Gebel Silsileh mußte in
Assuan, Theben und Memphis wiederholt werden.
Erschöpft kehrte Sethos von dieser langen Reise
zurück. Als die Boten ihm meldeten, der Wasserstand habe fast die übliche Höhe
erreicht, befahl er den Provinzvorstehern, die Deiche und Auffangbecken
besonders sorgfältig zu überprüfen. Das Unheil war zwar abgewendet, doch nun
hieß es, keinen Tropfen versickern zu lassen.
Jeden Morgen empfing der König, dessen Antlitz immer
hagerer wurde, seinen Sohn Ramses und sprach zu ihm von der Maat, der Göttin
der Gerechtigkeit, dargestellt von einer zarten Frau oder einer Feder, der
Steuerfeder der Vögel. Sie war die Herrscherin, denn nur sie gewährleistete den
Zusammenhalt zwischen den Menschen. Achtete man dieses göttliche Gesetz, war
auch die Sonne bereit, zu scheinen, das Korn wachsen zu lassen, und der
Schwache würde vor dem Starken geschützt, und Gegenseitigkeit und Miteinander
würden Alltag in Ägypten. Dem Pharao oblag es, Recht zu sprechen und die
Gesetze der Maat anzuwenden. Das war wichtiger als tausend blendende Heldentaten.
Seine Worte waren Balsam für Ramses’ Seele, der es
nicht wagte, den Vater nach seiner Gesundheit zu fragen, denn er fühlte, wie
dieser sich allmählich vom Alltag loslöste und eine andere Welt betrachtete,
deren Kräfte er seinem Sohn vermittelte. Kein Fünkchen dieser Unterweisungen
durfte er vergeuden. Um des Pharaos Worte in sich aufzunehmen, vernachlässigte
er Nefertari, Ameni und alle, die ihm nahestanden.
Seine Gemahlin bestärkte Ramses in diesem Tun. Mit
Amenis Hilfe übernahm sie eine Menge seiner Verpflichtungen, so daß er sich
ganz in den Dienst Sethos’ stellen und so der Erbe seiner Macht werden konnte.
Nach allem, was man hörte, war kein
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