RAMSES 1 - Der Sohn des Lichts
Ameni.«
»Mein Verschwinden hätte sie nicht beweint. Aber ich
gehöre ja auch nicht zur königlichen Familie.«
»Warum so bitter?«
»Nachsicht ist nicht immer die beste Ratgeberin. Deine
Schwester und ihr Mann werden nur darauf sinnen, dich zu verraten.«
»Schreib, Ameni.«
»Mein Handgelenk schmerzt. Willst du deiner Schwester
nicht eigenhändig deine Verzeihung gewähren?«
»Schreib, ich bitte dich darum.«
Wütend umklammerte Ameni seine Schreibbinse.
»Schreib meiner Schwester: Untersteht Euch nicht,
nach Memphis zurückzukehren, andernfalls kommt Ihr vor das Gericht des Wesirs,
und haltet Euch fern vom Pharao.«
Amenis Binse flog nur so über das Blatt.
Stunden verbrachte Dolente bei Iset, der Schönen,
nachdem sie ihr Ramses’ beleidigende Antwort gezeigt hatte. Verhießen seine
Unnachgiebigkeit, seine Heftigkeit, seine Herzlosigkeit nicht auch seiner
zweiten Gemahlin und seinem Sohn eine düstere Zukunft?
Chenar hatte gewiß recht gehabt, immer wieder die
Charakterschwächen seines Bruders anzuprangern. Nur die uneingeschränkte Macht
war Ramses wichtig. In seinem Umkreis würde er nur Zerstörung und Unheil
stiften. Trotz ihrer einstigen Liebe zu ihm würde doch auch Iset nicht
umhinkönnen, einen gnadenlosen Kampf gegen Ramses zu führen, wenn sogar
Dolente, seine eigene Schwester, sich dazu gezwungen sah.
Die Zukunft Ägyptens hieß Chenar. Iset würde Ramses
vergessen müssen, den neuen Herrscher des Landes heiraten und mit ihm eine
echte Familie gründen.
Sary fügte hinzu, der große Amun-Priester und
zahlreiche andere Würdenträger teilten Chenars Ansicht und würden ihn
unterstützen, sobald er nach Sethos’ Dahinscheiden seinen Anspruch auf den
Thron geltend machte. Nun war Iset, die Schöne, im Bilde und konnte ihr
Schicksal in die Hand nehmen.
Als Moses kurz nach Sonnenaufgang zur Baustelle kam,
war kein Steinhauer an der Arbeit. Dabei war es ein Tag wie jeder andere, und
an Gewissenhaftigkeit hatten es diese ausgesuchten Arbeiter noch nie mangeln
lassen. In ihrer Zunft mußte jedes Fehlen gerechtfertigt werden.
Aber die Säulenhalle von Karnak, die nach
Fertigstellung die größte Ägyptens sein würde, war menschenleer. Zum erstenmal
genoß der Hebräer eine Stille, die Meißel und Steinscheren nicht störten. Er
betrachtete die Götterdarstellungen auf den Säulen und bewunderte die Opferhandlungen,
bei denen der Pharao mit den Gottheiten verschmolz. Hier kam das Sakrale so
ungeheuer kraftvoll zum Ausdruck, daß die Seele nur erhoben werden konnte.
Stunde um Stunde verweilte Moses hier allein, als sei
er Herr über diesen magischen Ort, wo morgen die für das Überleben Ägyptens
notwendigen Schöpfungskräfte Einzug halten würden. Aber waren sie der höchste
Ausdruck des Göttlichen? Endlich bemerkte er einen Vorarbeiter, der zu Füßen
einer Säule vergessenes Handwerksgerät abholte.
»Wieso wurde die Arbeit unterbrochen?«
»Hat man es dir denn nicht gesagt?«
»Ich bin gerade erst aus dem Steinbruch am Gebel
Silsileh zurückgekommen.«
»Der Meister hieß uns heute morgen die Arbeit hier
abbrechen.«
»Und aus welchem Grund?«
»Der Pharao persönlich wollte uns den vollständigen
Plan des Baus erklären, aber er ist aufgehalten in Memphis. Sobald er nach
Theben kommt, werden wir weitermachen können.«
Diese Erklärung befriedigte Moses nicht. Was vermochte
Sethos davon abzuhalten, nach Theben zu kommen und sich um dieses so gewaltige
Bauvorhaben zu kümmern? Nur eine schwere Erkrankung konnte der Grund sein.
Sethos todkrank? Wer hätte damit gerechnet? Ramses
dürfte verzweifelt sein.
Moses würde das erste Schiff nach Memphis nehmen.
»Komm näher, Ramses.«
Sethos lag auf einem vergoldeten Holzbett in der Nähe
des Fensters, durch das die Abendsonne ins Zimmer fiel und sein Antlitz, dessen
Gelassenheit den Sohn erstaunte, mit Licht überflutete.
Neue Hoffnung beseelte in Ramses. Sethos hatte wieder
die Kraft, seinen Sohn zu empfangen, die Wundmale der Leidenszeit würden
verblassen. Würde er nicht doch Sieger bleiben im Kampf gegen den Tod?
»Der Pharao ist das Abbild des Schöpfers, der sich
selbst geschaffen hat«, erklärte Sethos. »Er handelt, damit die Maat ihren
rechten Platz erhält. Dein Handeln sei den Göttern wohlgefällig, Ramses. Sei
der Hirte für dein Volk, schenke den Menschen, ob klein oder groß, ihr Leben,
sei wachsam bei Tag wie bei Nacht, und nutze jede Gelegenheit, sinnvoll zu
handeln.«
»Das ist deine Aufgabe, Vater, und
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