RAMSES 1 - Der Sohn des Lichts
Landleben und den ewig gleichen Lauf der Jahreszeiten gewöhnen?
Sary hatte nicht gewagt, derartig quälende Gedanken
der Schwester seines Zöglings anzuvertrauen. Sie war zu schwatzhaft. Und mit
Sethos offen darüber zu sprechen war undenkbar. Der Pharao war ein Arbeitstier
und vollauf damit beschäftigt, das aufblühende Land zu verwalten. Wie sollte er
da Kümmernissen eines Erziehers Aufmerksamkeit schenken? Es war gut, daß Vater
und Sohn keinerlei Kontakt hatten. Angesichts einer so mächtigen Person wie
Sethos hätte Ramses keine andere Wahl, als sich aufzulehnen oder zu kuschen.
Die Tradition hatte schon etwas Gutes: Väter sind nicht die geeignetsten
Erzieher ihrer Kinder.
Tuja, die große königliche Gemahlin und Ramses’
Mutter, nahm eine völlig andere Haltung ein. Sary gehörte zu den wenigen, dem
ihre deutliche Vorliebe für den jüngeren Sohn aufgefallen war. Gebildet und
lebensklug, wie sie war, kannte sie die guten wie die schlechten Eigenschaften
eines jeden Höflings. Sie war die unbestrittene Herrscherin über den
königlichen Hausstand, wachte über die strenge Einhaltung der Anstandsregeln
und stand beim Adel wie auch beim Volk in hohem Ansehen. Sary hingegen
fürchtete Tuja. Belästigte er sie mit lächerlichen Befürchtungen, würde er in
ihrer Achtung sinken. Geschwätz schätzte die Königin nicht; eine unbegründete
Anschuldigung war in ihren Augen ebenso verwerflich wie eine Lüge. Es war
ratsamer, zu schweigen, anstatt den Unheilkünder zu spielen.
Sary bezwang seinen Widerwillen und ging zu den Stallungen.
Er hatte Angst vor Pferden, die keilten immer aus, und die Pferdepfleger und
besonders die lächerlich hochmütigen Reiter, die konnte er schon gar nicht
leiden. Er überhörte die Spötteleien, während er durch die Stallungen hastete,
wo er seinen Zögling jedoch vergeblich suchte. Seit zwei Tagen hatte keiner ihn
gesehen, worüber man verwundert war.
Stunde um Stunde mühte sich Sary, Ramses
wiederzufinden. Er vergaß dabei sogar das Mittagessen. Bei Einbruch der Nacht
kehrte er entmutigt, von oben bis unten staubbedeckt, in den Palast zurück.
Schon bald müßte er das Verschwinden seines Zöglings melden und beweisen, daß
er völlig unschuldig war an diesem Verhängnis. Wie sollte er der Schwester des
Prinzen gegenübertreten?
Er war so mißmutig, daß er sogar vergaß, seine
Amtsbrüder zu grüßen, die aus dem Unterrichtssaal kamen. Gleich morgen früh
würde er, wenn er sich auch wenig Hoffnung machte, Ramses’ beste Freunde
befragen. Erhielt er keinerlei Hinweis, mußte er sich in die grauenvolle
Wirklichkeit fügen.
Was hatte er den Göttern nur angetan, daß ein böser
Geist ihn so quälen durfte? Ein solcher Bruch in seiner Laufbahn wäre doch die
schreiendste Ungerechtigkeit. Der Hof würde ihn verjagen, seine Gemahlin ihn
verstoßen, und den Rest seiner Tage könnte er als Wäscher zubringen! Schaudernd
beim Gedanken an einen derartigen Abstieg, setzte sich Sary in Schreiberpose an
seinen angestammten Platz.
Für gewöhnlich saß Ramses ihm gegenüber, mal
aufmerksam, mal verträumt, aber stets zu einer unerwarteten Antwort bereit.
Im Alter von acht Jahren schon hatte er mit sicherer
Hand Hieroglyphen zu zeichnen vermocht, weil diese Übung ihm gefiel.
Der Erzieher schloß die Lider, um die glücklichsten
Augenblicke seines gesellschaftlichen Aufstiegs in sein Gedächtnis zu rufen.
»Bist du krank, Sary?«
Diese Stimme… Wie ernst und autoritär sie schon klang!
»Du bist’s? Bist du es wirklich?«
»Wenn du schläfst, schlaf weiter; wenn nicht, schau
her.«
Sary öffnete die Augen.
Es war wirklich Ramses, auch er war staubbedeckt, aber
sein Blick funkelte.
»Wir müssen uns beide wohl erst einmal waschen; wo
hast du dich denn herumgetrieben, Erzieher?«
»An schmutzigen Orten wie den Stallungen.«
»Solltest du mich gesucht haben?«
Verdutzt stand Sary auf und ging um Ramses herum.
»Was hast du mit der Kindheitslocke gemacht?«
»Mein Vater hat sie mir eigenhändig abgeschnitten.«
»Unmöglich! Das Ritual verlangt, daß…«
»Ziehst du meine Worte etwa in Zweifel?«
»Verzeih mir.«
»Setz dich, Erzieher, und hör mir zu.«
Sary gehorchte, der Ton des Prinzen, der kein Kind
mehr war, beeindruckte ihn.
»Mein Vater hat mir die Mutprobe mit dem wilden Stier
auferlegt.«
»Das… das kann doch nicht sein!«
»Besiegt habe ich ihn nicht, aber ich habe dem
Ungeheuer die Stirn geboten, und ich glaube, daß mein Vater mich als
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