Rappen lernen
das halbe Viertel planiert, darunter auch der Block in unserer Straße, in dem mein Großvater geboren war (auf einem Küchentisch im zweiten Stock der Mietskaserne, so wollte es zumindest die Familienlegende). Eigentlich ging es darum, die Slums aufzuräumen, man sprach jedoch von »Stadterneuerung«. Die Geschwindigkeit, mit der die Behörden Menschen in die neuen Sozialwohnungen umsiedelten, vertiefte zusammen mit der Wirtschaftskrise, die New York in den späten siebziger Jahren erfasste, die Brüche zwischen den einkommensschwachen orthodoxen Juden in den Arbeiterwohnungen auf unserer Seite der Straße und den einkommensschwachen Puerto Ricanern, die gemeinsam mit Schwarzen und Neuankömmlingen aus der Dominikanischen Republik in der »Loisada« wohnten.
Eine Zone, in der sich die verschiedenen Bevölkerungsgruppen begegneten, war der Sheriff Park (heute Gulick 13 Park) direkt unter dem Fenster meiner Großmutter, die im ersten Stock wohnte. Damals, ich muss so fünf oder sechs gewesen sein, hörte ich zum ersten Mal Rapper und Beatboxer, die Musik kam von den Picknick-Tischen im Park. Ich fand heraus, um welche Uhrzeit sich rund um batteriebetriebene Kassettenrekorder (Weiße nannten sie damals noch »Gettoblaster«) kleine Grüppchen versammelten, die mit dem Lärm des J- und des Z-Train wetteiferten, der direkt über uns auf die Brücke fuhr und so etwas darstellte wie eine rollende Leinwand für Graffiti, die heute zwar bejubelt werden, damals aber noch als etwas Erschreckendes galten. Dass meine Großmutter die Daily News las, die praktisch jeden Tag – zumindest immer wenn ich da war – auf der Titelseite berichtete, dass wieder jemand auf die Gleise geschubst, in den U-Bahn-Tunnel gezerrt und dort vergewaltigt oder ausgeraubt und zusammengeschlagen worden war, trug nicht gerade zur Beruhigung unserer Familie bei. Diese Meldungen hielten bis 1984 an, dem Jahr, in dem der als »Subway Vigilante« bekannt gewordene Bernard Goetz, ein Weißer, vier Schwarze niederschoss, die ihn angeblich bedrängt hatten. Immer wenn ich die Kassettenrekorder hörte, legte ich meinen Kopf auf das Fenstersims und lauschte wie ein Spaniel. Oder ich schmiegte mein Gesicht in die Gardine, die zu zerreißen drohte, bis mein Vater zum fünften Mal rief, ich möge doch nun bitte endlich zum freitäglichen Sabbat-Essen kommen.
Besonders gut erinnere ich mich an einen Spaziergang, den ich 1980 oder 1981 mit meinem Vater unternahm. Wir liefen durch die Straßen, in denen er aufgewachsen war, und sahen plötzlich, wie aus einem Fenster in einem der oberen Stockwerke der Wohntürme eine Schallplatte nach 14 der anderen segelte und auf dem Gehweg zerschellte. »Warum machen die das?«, fragte ich. Ich war ziemlich beeindruckt, dass dort jemand wohnte, der es sich leisten konnte, derart verschwenderisch mit Schallplatten umzugehen. Selbst meine Eltern hatten nur eine kleine Sammlung (die LP s stammten hauptsächlich aus ihrer College-Zeit), und ich wünschte mir Platten sehnlicher als Bonbons oder Gold. Eigentlich hatte man mir doch beigebracht, dass dort arme Leute wohnten, eine Kategorie, von der ich damals noch nicht wusste, dass man sie auch auf meine Großmutter und ihre Nachbarn anwenden konnte. »Dafür gibt es keine Erklärung«, sagte mein Vater.
Der erste Song, den ich je zu rappen versucht habe – zumindest den Refrain –, stammte von einem K-Tel-Sampler auf Kassette. Es war »The Message« von Grandmaster Flash and the Furious Five. K-Tel stellte jeden Monat die größten Radiohits zusammen, um sie dann in Drogerien oder nachts im Fernsehen billig zu verkaufen. Ich lag auf meinem Bett in unserem Bostoner Vorort, spulte immer wieder zurück und lernte den Text, der auf dem Beat betont wird, zerhackt in einfache Viertelnoten:
»Don’t – push – me – ’cause – I’m – close – to – the …
edge
I’m – try – in’ – not – to – lose – my – head …
Ha ha ha ha
It’s like a jungle sometimes it makes me wonder how I
keep from goin’ under.«
Die Strophen habe ich damals nicht gelernt, und ich kann sie bis heute nicht auswendig. In meinem Kopf stellte ich jedoch eine Verbindung zwischen dieser Stimme, vor al 15 lem dem zornigen Lachen, und dem Rätsel der Schallplatten her, die aus dem Fenster hoch oben in der Wohnsiedlung segelten.
Ein Standardmotiv, das in allen Erzählungen über die eigene Hip-Hop-Biografie auftaucht (bei Fans, aber auch bei den Musikern), ist der Moment, in der
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