Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)
über Carls Selbstmord nie verstummen würden. Doch zu ihrer eigenen Überraschung erkannte sie, dass sie den Respekt vor ihm nicht schmälerten. Im Gegenteil. Dieses Ende gab seinem Leben eine tragische Aura und seinen Bildern eine Tiefe, die ihnen sonst möglicherweise nicht zugesprochen worden wäre. Und auch ihr wurde Respekt gezollt. Sie hatte viel zu ertragen gehabt, auch die Bürde eines schwierigen Mannes.
Sie hatte den Gedanken an Selbstmord nie akzeptieren können. Er weckte in ihr einen Widerstand, als ginge es um ihr eigenes Leben. Sie besuchte häufig die Kirche. Dort setzte sie sich auf eine der blau lackierten Bänke und blickte auf die Altartafel. Noch einmal sah sie in Jesus abgeklärtes Gesicht, das wie von innen erleuchtet schien. Sie sah Carls Hand in diesem Gesicht, den hellen Carl, den sie aus dem Chaos der Erinnerungen geschaffen hatte.
Carl hätte die Tiefseezone des Meeres entdeckt, wenn er noch in der Lage gewesen wäre zu sehen. Aber seine Augen gab es nicht mehr. Selbst wenn er noch hätte atmen und denken können, hätte sein Blick die unterseeische Dunkelheit nicht durchdringen können, in der die gesamte Farbenlehre, für die er gelebt und gearbeitet hatte, verworfen wurde. Bis hierher drang die Sonne nicht. Das Licht kam von den lebenden Organismen selbst, als würde jedes eine eigene innere Sonne tragen. Im Grunde hatte er dies immer gesucht, das innere Licht in den Lebenden, in den Seelen. Aber hier gab es keine Seelen. Das Licht diente einzig dazu, Beute anzulocken oder einen stärkeren Feind zu verscheuchen. Es glomm aus der schlichten Notwendigkeit zu überleben, und in diesem matten Schein existierten keine anderen Farben als violett, dunkelbraun und grau. Sogar für ihn wäre es zu trist gewesen. Hier hätte sich sein Pinsel nicht damit begnügen können, etwas wiederzugeben. Hier hätte er etwas hinzufügen müssen. Doch Carl gab es hier nur stückweise, augenlos war er ohnehin. Welcher Teil von ihm trug wohl bis zuletzt seinen Namen: ein Arm, ein Oberschenkelknochen, vielleicht der Schädel oder der Rest des Herzens in einem Haifischmaul?
Carls Ruhm als Maler hielt nicht lange an. Nach zwanzig Jahren musste Anna Egidia einsehen, dass er zu den Vergessenen gehörte. Eines Tages stand ein Kunstkenner vor ihrer Tür und bat, sich die Sammlung der Familie ansehen zu dürfen. Nicht alles war bei der Auktion in Charlottenborg verkauft worden. Ein Teil der Bilder hing im Wohnzimmer, andere standen an der Wand des Ateliers, bedeckt von einem schützenden Tuch. Sie zeigte das Verbliebene. Der Kunstkenner betrachtete die Bilder aus Grönland lange, vor allem das Bild eines Kajakruderers. Besonders lobte er allerdings die Gemälde mit Motiven der dänischen Küste und Gewässer.
»Es ist eine Schande, dass Ihr Mann in Vergessenheit geraten ist«, sagte er. »Es ist unverdient. Es liegt sehr viel Gefühl für das Nationale in seinen Darstellungen.«
Anna Egidia blickte überrascht auf. So hatte sie Carls Gemälde noch nie gesehen.
»Wissen Sie, was Christian IX. über Ærø nach der Niederlage 1864 gesagt hat?«, fragte der Kunstkenner. »›Nun ist Ærø das Letzte von Schleswig, was uns bleibt.‹ Es müsste eine Gedenkausstellung für Ihren Mann arrangiert werden. Südlich der Grenze wütet der Krieg, und möglicherweise wird Deutschland diesmal verlieren. Dann kehrt Südjütland nach Dänemark zurück, wenn wir nur die Gelegenheit nutzen. Es geht darum, das Nationalgefühl zu wecken. Ich glaube, die Bilder Ihres Mannes könnten eine Mission haben.«
Anna Egidia sagte nichts. Der Gedanke war ihr vollkommen fremd. Jahrelang hatte sie Carl für sich allein gehabt. Sie fühlte sich nicht verletzt, weil man ihn vergessen hatte. Eher erfüllte sie ein innerer Frieden, dass er wieder zu ihr nach Hause zurückgekehrt war. Dass Krieg in der Welt herrschte, musste man ihr nicht erzählen. Gerade erst hatte sie Karl Johan verloren. Anna Egidia antwortete zerstreut auf die Idee des Kunstkenners.
»Ich ziehe so viel Trost aus Carls Altartafel in der Kirche«, sagte sie.
Ihr Gast reagierte, als hätte er von ihrer Antwort nichts anderes als das Wort ›Altartafel‹ gehört.
»Ja, es ist eine Schande«, sagte er, »dass Ihr Mann seine Zeit damit vergeudet hat, Altarbilder zu malen. Damit kam er doch überhaupt nicht zurecht. Obwohl es ja eigentlich ganz originell ist, als Motiv Jesus zu wählen, wie er den Sturm auf dem See Genezareth besänftigt, wenn die Gemeinde überwiegend
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