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Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)

Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)

Titel: Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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wie er es ausdrückte, überall auf den Schiffen ausgesetzt waren, und Carl wurde klar, dass der Steuermann nun die Rolle des Märtyrers spielen wollte.
    Carl spürte keinerlei Bedürfnis, ihm beizuspringen. Mit seinen Torheiten zog Ryberg den Spott doch an. Es handelte sich um ein Spiel zwischen Steuermann und Kapitän, das Carl nicht gefiel. Der Gläubige fand eine ungesunde Bestätigung in den Erniedrigungen, die er die ganze Zeit über selbst provozierte. Er bettelte geradezu darum, zum Märtyrer gestempelt zu werden, und Thomsen hielt sich nicht zurück, wenn es galt, Ryberg die notwendigen Prügel zu verabreichen.
     
    Eines Abends hielt sich Carl trotz zunehmender Kälte noch spät an Deck auf. Er stand an der Reling, in diesem sonderbar rastlosen Licht, das nun rund vierundzwanzig Stunden am Tag herrschte. Nachts, wenn es eigentlich hätte dunkel sein sollen, zauberte das Licht mit dem fernen Horizont. Die Konturen verschwammen, und der Horizont schien sich zu bewegen, als wäre er eine Welle, die sich in der Nähe aufbaute.
    Carl hörte Schritte an Deck und drehte sich um. Ryberg stand hinter ihm und reichte ihm wortlos eine Tasse heißen Tee. Carl wusste, dass der Tee nur als Vorwand für neue Vertraulichkeiten und Bekenntnisse herhalten sollte, aber es fiel ihm schwer, ihn abzulehnen.
    »Tja, an so einem Abend gehen die Gedanken zurück«, begann Ryberg.
    Carl erwartete eine weitere erbauliche Geschichte, gefolgt von einem abschließenden Bibelzitat.
    »Man denkt an Frau und Kind.«
    Den Worten des Steuermanns folgte ein langes Seufzen. Ryberg kratzte sich im Nacken und bekam einen abwesenden Blick, als ob er sich vollkommen in seinen Erinnerungen verlor.
    »Sie vermissen sie?«, erkundigte sich Carl. »Ja, es ist hart, die Familie zu entbehren. Aber eines Tages geht die Reise ja auch wieder zurück.«
    Er hatte das Gefühl, in diesem Moment sehr überzeugend zu klingen. Es lag an seinem Gegenüber. Wenn er mit Ryberg zusammentraf, fühlte er sich stets wie ein Erwachsener. Der Steuermann erforderte die gleiche Aufmerksamkeit wie ein exaltiertes Kind.
    »Für sie gibt es keinen Weg zurück. Ich habe sie vor einigen Jahren verloren.«
    Das Überspannte an Ryberg war verschwunden. Seine Stimme klang nüchtern.
    »Das tut mir leid.«
    Carl überlegte, ob er sich in Ryberg möglicherweise geirrt hatte und der Mann es mit dem Christentum tatsächlich ernst meinte.
    »Ja, damals habe ich mich abgewandt, wenn mir jemand etwas von Gott erzählte«, sagte der Steuermann, als hätte er Carls Gedanken erraten.
    »Meine Frau und meine Kinder sechs Fuß unter der Erde – das ist ja wohl Beweis genug für die Liebe Gottes! Ich hatte mein eigenes Schiff, und auf dem Meer setzte ich Segel wie ein Wahnsinniger. Ich kannte keine schönere Melodie als das wilde Heulen des Sturms im Rigg. Lagen wir im Hafen, soff ich fünf Tage hintereinander. Einmal sprang ich im Delirium sogar durch ein geschlossenes Fenster.«
    Er wies auf sein Gesicht und streckte dann die Hände aus.
    »Die Narben habe ich noch. Ich habe alles verloren, was ich besaß. Haus, Schiff – aber ich machte mir nichts daraus! Denn das Wichtigste hatte ich längst verloren. Ich ging auf Grund, Rasmussen. Ich ging auf Grund.«
    Wieder verfiel der Steuermann in eine etwas inszeniert wirkende Pose. Er hatte mit einer seiner erbaulichen Geschichten begonnen, nur spielte er diesmal selbst die Hauptrolle. Carl wagte nicht einmal, an den Spott zu denken, mit dem Kapitän Thomsen diese Geschichte kommentieren würde, wenn er sie gehört hätte. Vielleicht kannte er sie ja auch schon, und der Steuermann suchte in Carl einen verständnisvolleren Zuhörer.
    »Möchten Sie wissen, wie es auf Grund so ist, Rasmussen? Das kann ich Ihnen erzählen. Dort wartet der Selbstmord. Oder der Herr. Sonst würde ich heute nicht hier stehen. Eigentlich ist es ganz einfach. Wir müssen bloß eins verstehen: Wir schaffen’s nicht allein. Die meisten Menschen begreifen das nie. Durch Glück oder durch das Spiel des Zufalls bleibt ihnen ihre Ohnmacht verborgen. Sie glauben, sie schaffen’s allein. Aber niemand kann das.«
    »Ich bin froh, dass Sie den Glauben gefunden haben.«
    Carl hörte die Höfichkeit in seiner eigenen Stimme.
    »Ich schaff’s nicht allein.«
    Ryberg wiederholte sein Glaubensbekenntnis. Er starrte vor sich hin, und im gleißenden Abendlicht unter der tiefhängenden Wolkendecke schwammen seine Augen in Tränen.
    Carl wandte sich ab. Nicht nur die Scham ließ ihn in

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