Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)
hörten sie es wieder, und die Jungen sahen sich an. Noch ein Schrei, und endlich begriff er. Es war Niels Peters verdammtes Weibsstück, die verrückte Frau aus Marstal, die er gesehen hatte, als sie am Grab des Russen saßen.
»Karo, Karo!«, schrie sie in den Nebelregen.
Sie wirkte gleichzeitig größer und kleiner als beim letzten Mal. Das Bündel Schals wuchs ihr über Rücken und Schultern. Doch das Gewicht der nassen Wollsachen drückte sie zu Boden, sodass sie ihm diesmal noch gebückter vorkam – als hätte sie endlich begriffen, dass der verschwundene Hund unter der Erde zu finden war und sie versuchen musste, ihn mit ihren Schreien von den Toten zurückzurufen. Sie stützte sich auf einen Stock, und ihre Ähnlichkeit mit einem unförmigen Tier schien größer denn je.
Die Jungen rannten auf sie zu. Dann waren sie bei ihr. Sie umringten sie und schrien ihr ins Gesicht. Es klang wie Kriegsgeheul. Sie glichen einem Indianerstamm, der einen Totentanz um einen gefangenen Feind aufführt. Carl hörte jedoch noch etwas anderes in ihrem Geheul. Er hörte Furcht. Sie hatten Angst vor ihr. Er selbst fand sie eher bemitleidenswert als abscheulich. Er konnte an ihrer sonderbaren Erscheinung nichts Erschreckendes erkennen. Aber es hatte den Anschein, als würde sie in den Augen der Jungen eine Finsternis wecken, die alle zu verschlingen drohte. Das Geheul der Jungen wurde wilder. Sie bückten sich und lasen feuchte Erdklumpen vom Acker auf. Die Frau ließ den Stock los und verbarg ihr hässliches, eingefallenes Gesicht in den Handfächen. Ein paar lose graue Haarsträhnen hingen nass und klebrig über den mageren Händen.
Als das Gesicht nicht mehr zu erkennen war, schien es, als wäre der letzte Rest von Menschlichkeit an diesem unförmigen Wesen verschwunden. In einem unbarmherzigen Bombardement hagelten die Erdklumpen auf sie nieder. Im ersten Moment unternahm Carl nichts. Dann lief er zu der Frau und stellte sich schützend vor sie. Er hatte nicht weiter nachgedacht und auch keinen bewussten Entschluss gefasst, der Mut erforderte. Er spürte nur, dass ein Haufen ungezogener Kinder im Begriff war, etwas Falsches zu tun.
Aber das Bombardement der Erdklumpen hielt an, und nun wurde er selbst zum Ziel, als hätte er unvermittelt die Seite gewechselt. Ein Klumpen traf ihn an der Schulter, ein anderer an der Wange.
Er trat einen Schritt vor und packte Niels Peter um die Handgelenke.
»Hört jetzt auf«, sagte er. »Sie hat euch doch nichts getan.«
Niels Peter starrte ihn mit einem wilden Ausdruck in den Augen an. Dann stürzte er sich auf ihn und warf ihn rücklings auf den Acker. Sie rangen eine Weile, aber Niels Peter war der Erfahrenere der beiden, und schon bald musste Carl sich geschlagen geben. Niels Peter saß auf seiner Brust und drückte Carls ausgebreitete Arme in die aufgeweichte Erde des Ackers. Die anderen standen im Kreis um sie herum. Das eigentliche Ziel ihrer Quälereien hatten sie vollkommen vergessen.
»Was geht in euch vor?«
Niels Peter ließ Carls Handgelenke los und zuckte die Achseln, als ob er auch nicht imstande wäre, diese Frage zu beantworten. Er stand auf und gab Carl die Hand, um ihm auf die Beine zu helfen. Es schien, als erwachten sie aus einem Rausch.
Frau Isager war verschwunden, und keiner machte Anstalten, sie zu verfolgen.
»Die läuft uns ständig hinterher«, sagte Niels Peter.
»Das ist doch Blödsinn. Sie ist einfach eine arme Seele, die ihren Verstand verloren hat. Ihr habt doch selbst gesagt, dass sie ihren Hund sucht. Wieso sollte sie euch hinterherlaufen?«
Niels Peters Gesicht verzog sich. Er erwiderte nichts. Carl bemerkte auf seiner Wange einen Bluterguss, wie nach einem heftigen Schlag.
»Du musst sie zeichnen.«
Es klang wie ein Befehl.
Die anderen nickten zustimmend.
»Ja«, wiederholte Niels Peter. »Du musst sie zeichnen.«
»Aber ihr findet doch, dass sie hässlich ist. Und ekelhaft. Warum soll ich sie dann zeichnen?«
»Das geht dich gar nichts an.«
»Das geht mich wohl etwas an. Denn ohne mich gibt’s keine Zeichnung.«
»Zeichne sie jetzt«, sagte Albert.
»Mach schon«, bellte Niels Peter.
Carl schüttelte den Kopf. Der Regen hatte ihn durchnässt, und nach dem Ringkampf war er matschverschmiert. Nun war es an der Zeit, ihnen zu zeigen, mit wem sie es zu tun hatten. Er richtete sich auf.
»Ich mach’s nicht«, sagte er. Er sah jeden Einzelnen von ihnen an. »Ich zeichne nichts Hässliches.«
»Wie uns vielleicht! Wir sind dem
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