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Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)

Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)

Titel: Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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deinem Vater. Er ist draußen im Garten.«
    Verwirrt ging Carl zur Hintertür. Er fand den Vater mit einer Schaufel in der Hand unter dem Apfelbaum. Wie Hinrichsen war auch er im Begriff, ein Loch zu graben. Von den Nachbargärten trennte den Garten lediglich ein Bretterzaun, und überall sah Carl Männer mit gebeugten Rücken, die in der Erde gruben. Als hätte die gesamte Stadt den Verstand verloren.
    Der Schneidermeister stellte die Schaufel beiseite und richtete sich zu seiner vollen Größe auf. Er zeigte mit dem Finger auf Carl, wobei seine Augen auffammten, wie der Junge es noch nie gesehen hatte: »Jetzt ist es genug! Jetzt ist Schluss mit dem Unfug!«
    Die Worte entfuhren seinem Mund in einem Donnerschlag lang aufgestauter Wut. Aber da er Angst hatte, dass die Nachbarn ihn hörten, füsterte er, statt zu brüllen, und das Ergebnis war ein seltsames Fiepen wie von einer Maus, die eine unerklärliche Erregung erfasst hat.
    »Was machst du denn da?«, fragte Carl. »Wieso gräbst du?«
    »Sei still!«, sagte der Vater mit seiner neuen Stimme. »Ich schicke dich nach Kopenhagen. Du kommst in eine Manufakturlehre. Schluss jetzt mit diesem Malerunfug. Es ist Schluss! Schluss! Schluss!«
    Er hielt unvermittelt inne. Er war außer Atem. Schließlich kam es mit einem langen, kraftlosen Seufzen: »Schluss mit allem.«
    Der letzte Satz klang, als würde er ein Urteil fällen, nicht nur über Carl, sondern auch – und vielleicht vor allem – über sich selbst.
     
    An diesem Abend gab es lediglich ein Gericht anstelle der sonst üblichen zwei.
    Der Esstisch war nicht groß genug für die gesamte Kinderschar, daher aß die Familie normalerweise in mehreren Gruppen. Die Mutter teilte aus, der Vater führte am Tischende den Vorsitz. Er kaute langsam und nachdenklich und behielt dabei die wechselnden Gruppen seiner essenden Kinder im Auge. Er sprach kein Wort, sondern schlug nur in regelmäßigem Abstand mit der Handfäche fest auf den Tisch. Bemerkte er, dass eine der sorgfältig eingeübten Tischmanieren nicht eingehalten wurde, verwarnte er damit die ganze Schar auf einmal. Sofort kehrte Ruhe ein. Sie vergaßen sogar zu kauen. Messer und Gabeln kratzten nicht mehr über die Teller, wenn sie mit eingeübtem Schuldbewusstsein den Blick niederschlugen. Nach einer angemessenen Pause begannen die Kinder wieder zu essen. Hatten sie ihre Mahlzeit beendet, standen sie auf und stellten sich hinter die Stühle, wobei sie sich im Chor für das Essen bedankten und ihre Plätze der nächsten Gruppe überließen.
    Heute mussten sie sich in der Küche die Graupensuppe jedoch selbst aus dem Topf schöpfen. Niemand kümmerte es, wo sie saßen. Der Vater hatte sich an seinen üblichen Platz am Tischende gesetzt, aber er aß nicht. Die Mutter stand hinter seinem Stuhl, als erwarte sie einen Befehl. Da sie nichts hörte, begnügte sie sich damit, verzagt die Kinder anzusehen, die verwundert ihren Blick erwiderten. Sie verteilten sich mit ihren Tellern in der ganzen Wohnstube, zwei setzten sich sogar auf den Boden, als hätten sie die jahrelange Erziehung mit einem Tag vergessen und wollten nun ihre frisch erworbene Freiheit erproben.
    Carl, der keinen Appetit hatte, verließ das Haus und lief ziellos in den Straßen umher.
    Er hatte es aufgegeben, irgendeinen Schlüssel für dieses Benehmen zu finden, das wie ein kollektiver Wahnsinn von den Einwohnern der Stadt Besitz ergriffen zu haben schien. Nur eins hatte er begriffen: Die Tür zu seiner Zukunft hatte sein Vater an diesem Tag unversehens versperrt. Sein Traum, Maler zu werden, würde niemals in Erfüllung gehen.
    Zu Hause fand er keine Ruhe, nun boten die menschenleeren Straßen einen Freiraum. Instinktiv wusste er, dass in allen Heimen Ærøskøbings die gleiche Ratlosigkeit herrschte wie in seinem Elternhaus. Kein Neugieriger saß hinter der Gardine, um die Straße zu beobachten. Endlich konnte er sich den Tränen hingeben, die ihm in den Augen standen, seit sein Vater, mit der Schaufel in der Hand, die düsteren Worte ausgesprochen hatte.
    Am nächsten Tag ließ sich alles im ›Ærø Avis‹ nachlesen, und Carl verstand bald, dass nur ein junger Mensch wie er nicht hatte wissen können, was sich in Ærøskøbing abspielte. Claus Christian Hinrichsen, der Schutzengel der Stadt, der erste Bürger und allmächtige Wohltäter, aller Freund und niemandes Feind, sein ganz persönlicher Mäzen, war bankrott. Im Augenblick der Katastrophe zeigte sich, dass es Hinrichsen, der mit einem

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