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Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)

Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)

Titel: Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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ein Zeichen von Vertraulichkeit, wie alle angenommen hatten.
    »Kann ich irgendetwas tun?«
    Carl wiederholte seine Frage. Aber diesmal dachte er nicht an das Loch im Feld. Er hätte Ærøskøbings ersten Bürger gern bei der Hand genommen und zurück in die Stadt gebracht, als würde Hinrichsen im Windschatten der schützenden Häuserreihen wieder zur Besinnung kommen und sich daran erinnern, wer er war.
    »Bist du noch immer hier, Bursche? Mach, dass du wegkommst! Das hier geht dich überhaupt nichts an!«
    Erschrocken trat Carl einen Schritt zurück. Beinahe hätte er sich rücklings auf den Boden gesetzt. Dann drehte er sich um und lief zurück auf die Landstraße. Sein erster Gedanke galt Hinrichsen. Er hatte keinen Zweifel, dass es sich um eine Art Eintrübung des Gehirns handeln musste, die seinen Wohltäter heimgesucht hatte, obwohl er nicht verstand, wie eine derartig gewaltige Veränderung von einem Tag auf den anderen bei einem Menschen stattfinden konnte. Er musste in der Stadt Hilfe holen, doch er wollte niemanden von der städtischen Obrigkeit oder den Doktor physicus aufsuchen, sondern seinen Vater. Der Vater würde wissen, was zu tun war.
    Als Carl Pilebækken überquerte und durch die Häuserzeilen der Østergade lief, begegnete er keinem Menschen. Das war nicht weiter ungewöhnlich. Erst am kleinen Gänsemarkt an der Ecke begann die Stadt richtig. Doch wie still es auch hier war, fiel ihm auf, als er die lange Søndergade erreichte und noch immer niemanden getroffen hatte. Vor Erstaunen vergaß er sein eigentliches Anliegen. Statt direkt nach Hause zu laufen, ging er zum großen Marktplatz, an dem die Lateinschule, das Gericht und die Kirche lagen. Überall war es menschenleer. Ein seltsamer Umstand, der ihn einen Augenblick überlegen ließ, ob Hinrichsens Gehirntrübung möglicherweise ansteckend sein könnte, sodass er selbst jedes Gefühl für Zeit und Raum verloren hatte und seinen Sinnen nicht mehr trauen konnte.
    Carl blieb ganz ruhig auf dem großen Platz stehen und rief dann in einer plötzlichen Eingebung: »Ist hier jemand?«
    Sogar in den eigenen Ohren klang die Frage eigenartig; als befände er sich in einem fremden Haus und nicht mitten in der Stadt, die ihm sein ganzes Leben vertraut war.
    Er erhielt keine Antwort. Kein Fenster öffnete sich, kein Händler trat vor die Tür, um zu sehen, wer da so verstört rief. Das einzige Lebenszeichen schien der Rauch zu sein, der aus vielen Schornsteinen der Stadt in die windstille Luft stieg. Als hätte ein feindlicher Indianerstamm die Stadt eingenommen und sendete aus ihren Kachelöfen nun Rauchsignale in einem Code, den er nicht verstand.
    Carl rannte die Brogade hinunter. Er wollte nach Hause zu seinen Eltern. Dieses Haus, aus dem er sich so oft schon fortgesehnt hatte, kam ihm nun vor wie die letzte Bastion der Geborgenheit. Mutter und Vater würden ihn davon überzeugen, dass die Welt noch existierte.
    Er stürmte durch die Haustür und platzte in die Nähstube seines Vaters, in der die Fenster vor Hitze beschlagen waren. Seine Mutter beugte sich über den glühenden Kachelofen. Die Luke stand offen, sie stopfte weiße Blätter in die Flammen.
    »Mutter!«, rief er.
    Seine Erregung hatte sich nicht gelegt. Der Anblick seiner Mutter vor dem Kachelofen dämpfte das Fieber nicht, das in seinem Hirn raste.
    Die Mutter zuckte zusammen, als hätte man sie bei etwas Verbotenem ertappt.
    Sie drehte sich zu ihm um.
    »Ach, du bist es«, sagte sie.
    In ihrer Stimme schwang weder freudige Überraschung noch ein Willkommensgruß mit. Eher klang sie, als ob ihr sein plötzliches Erscheinen ungelegen käme. »Wo bist du gewesen?«, lautete gewöhnlich ihre erste Frage. Nun kehrte sie ihm den Rücken zu und begann erneut, den Ofen zu füttern.
    »Mutter!«, rief er noch einmal.
    Carl spürte, wie ihm die Tränen kamen.
    »Wo sind all die Leute?«
    Mit einer müden, resignierten Bewegung, als würde sie ihn mit ihrem ganzen Körper bitten, sie doch nur in Ruhe zu lassen, legte sie einen Finger an die Lippen.
    »Pssst«, zischte sie.
    Dann verlor sie die Beherrschung. Es zuckte um ihren Mund, und sie schlug die Hände vors Gesicht, um ihren Gefühlsausbruch vor ihm zu verbergen.
    »Es ist so furchtbar«, jammerte sie mit tränenerstickter Stimme. »Was sollen wir bloß machen? Was sollen wir armen Menschen denn bloß machen?«
    Er umarmte sie. Um die eigene, wachsende Panik zu dämpfen und um sie zu trösten. Doch sie stieß ihn von sich.
    »Sprich mit

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