Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)
und sah über die Ostsee. Das oberste Stück des Himmels lag frei, aber über dem Horizont hing eine dicht gedrängte Wolkenschicht, die in aufgetürmten, zerrissenen Bergrücken auslief, umgeben von daunenartigen Wolkenfetzen.
Carl hatte viele Tage erlebt, die er als Wendepunkte bezeichnen würde. Er selbst hatte das Gefühl, ein wechselvolles Leben geführt zu haben. Dieser Tag war der hässlichste, gleichwohl der wichtigste gewesen.
Er blickte auf die Wolkenmauer am Horizont. Er erkannte sie von der Beschreibung in Der Wolkenhimmel wieder, wo Ingemann sie als Paradiesmauer bezeichnete. Er spürte, dass der Himmel ihm ein Zeichen gab, und er dachte an Ingemanns Wort, dass die Seelen dorthin fögen, wenn sie in ihrem weltlichen Kampf gesiegt hatten.
Carl begann zu weinen. Ungeschützt, das Gesicht zum Himmel gewandt. Er war aufgewühlt, doch einen singulären Grund dafür hätte er nicht anführen können. Es gab so viele Gründe auf einmal.
An diesem Tag sollte er noch einmal weinen. Hinter verschlossenen Türen, das Gesicht in den Händen verborgen, wobei er mit aller Kraft versuchte, nicht so laut zu schluchzen. Diesmal kannte er den Grund seiner Tränen allerdings nur allzu gut.
Er hatte seinen Traum verloren.
D er Kapitän und der Steuermann blieben seine einzige Gesellschaft auf dem Schiff. Jeden Tag aßen sie zusammen im Salon, und Carl lernte die beiden besser kennen, als er eigentlich wollte.
Der Kapitän erinnerte ihn an die Seeleute aus Marstal. Er erwies sich als kluger und nachdenklicher Mann, der den größten Teil der Welt nicht nur gesehen, sondern sich auch seine Gedanken darüber gemacht hatte. Ähnlich wie bei den Marstallern führten seine Beobachtungen allerdings fast immer zu zynischen Schlussfolgerungen, als würden Reiseerfahrungen jeden Glauben und jegliche feste Überzeugungen untergraben.
In dem Steuermann fand Carl zu seinem Unbehagen einen Glaubensgenossen. Bei Harry Ryberg handelte es sich um einen gläubigen und lautstark bekennenden Christen, nur klang das Christentum, zu dem sich der Steuermann bekannte, in Carls Ohren wie der primitivste Humbug.
Zur Bibel hatte er ein eher intimes Verhältnis. In einem seiner ehrlichen Momente hätte er es wohl schwärmerisch genannt. Carl las die Bibel am liebsten hinter geschlossenen Türen, und Pastoren erschienen ihm am vernünftigsten, wenn er mit ihnen unter vier Augen in ihren Studierstuben sprach. Auf der Kanzel veränderte sich ihr Tonfall, und er fand die Plumpheiten, die ihren Mündern entwichen, wenn sie die Aufmerksamkeit ihrer Gemeinde zu fesseln versuchten, nicht immer segensreich.
Ryberg hingegen hatte den Herrn erst spät in seinem Leben gefunden. Sein Glaube war in den Seemannskirchen dieser Welt nach den einfältigsten Rezepten geformt worden. Eifrig berichtete er von den zahlreichen Erlebnissen mit dem Herrgott, der seit Rybergs Bekehrung sein bester Freund geworden war. Der liebe Gott stand dem Steuermann jederzeit bei, wenn er in Not geriet oder ihm lediglich irgendetwas Praktisches fehlte. Drohender Schiffbruch, ein Leck, Navigationsprobleme in schwierigen Fahrwassern, der Herrgott war stets zur Stelle. Es zeigte sich, dass Rybergs bester Freund auch zu einem tüchtigen Lieferanten von Proviant und Frischwasser werden konnte, Hauptsache, der Steuermann fiel auf die Knie und betete inständig genug. Ja, Ryberg war an Bord eines Schiffs gewesen, auf dem ein schwerer Sturm die Petroleumtonne zerschlagen hatte, doch nach vielen inständigen Gebeten schickte der Herrgott eine neue Tonne, die urplötzlich aus den Wogen des Nordatlantiks auftauchte.
Wie immer schloss der Steuermann den Bericht über das jüngste Wunder mit einem triumphierenden Blick und einem Zitat aus der Bibel.
»Denn Gott der Herr ist Sonne und Schild; der Herr gibt Gnade und Ehre: Er wird kein Gutes mangeln lassen den Frommen.«
Carl war zu höfich, um etwas zu sagen. Thomsen aber legte das Strickzeug beiseite und nahm die Tonpfeife aus dem Mund, bevor er in den Spucknapf am Fuß des Tisches spuckte. Dann schlug er seinem Steuermann aufgeräumt auf die Schulter.
»Tja, der liebe Gott«, sagte er. »Sollte verdammt noch mal unter die Schiffsausrüster gehen.«
Ryberg schaute gekränkt zu Boden, erwiderte allerdings nichts. Verstohlen blickte er zu Carl, als erwartete er, dass der Maler ihm zu Hilfe kam. Ryberg hatte sich ihm anvertraut und von Spott und Verfolgungen erzählt, denen gläubige Seeleute, ›der Bruderkreis auf See‹,
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