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Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)

Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)

Titel: Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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eine andere Richtung blicken. Er fand den Gefühlsausbruch in dem hässlichen, vernarbten Gesicht des Steuermanns abstoßend.
    Eine Weile standen sie wortlos da und starrten auf den Horizont.
    »Sie haben nie wieder geheiratet?«
    Der Steuermann schüttelte den Kopf.
    »Mit dieser Visage?« Er zeigte auf sein zerschnittenes Gesicht.
    »Und Sie?«, fragte er. »Sind Sie verheiratet?«
    »Ich habe acht Kinder.«
    »Mit der Liebe Ihrer Jugend? Mit der Frau, von der Sie geträumt haben?«
    Rybergs Stimme klang insistierend. Carl vermutete, dass der Steuermann eigentlich auf seinen eigenen Verlust anspielte. Er wandte den Blick ab. Er mochte nicht antworten.
    »Ihr Tee wird kalt«, sagte er stattdessen.
    Ryberg schaute auf seine Tasse. Dann führte er sie pfichtschuldig an den Mund und trank einen Schluck. Als er sie absetzte, sah er Carl wieder an. Sein Blick hatte etwas Beharrliches.
    »Lieben Sie Ihre Frau?«
    »Das geht Sie nichts an.«
    Die Worte entfuhren Carls Mund, bevor er darüber nachgedacht hatte. Der Steuermann war zu aufdringlich geworden, außerdem war ihm das Thema ohnehin unangenehm.
    Ryberg zog sich gekränkt zurück. Carl blieb noch eine Weile an Deck. Er grübelte über die Geschichte des Steuermanns.
    »Im Grunde ist es eine Art von negativem Glaubensbekenntnis«, dachte er. »Es beruht auf einer vollkommen selbstzerstörerischen Verachtung. So sieht mein Glaube nicht aus. Ich bin Künstler. Alles, was ich schaffe, steht im Zeichen des Bejahens.«
    Er trank von dem Tee.
    »Darum reise ich nach Grönland«, sagte er halblaut zu sich.
    Es lag Zweifel in seiner Stimme, als müsste er sich selbst überzeugen und hatte noch nicht das richtige Argument gefunden.
     
    A ls Carl am späten Nachmittag an den beiden Windmühlen auf dem Gipfel des lang gestreckten Hügels vorbeikam, der bis hinunter nach Ærøskøbing reichte, stieg Rauch aus den weiß gekalkten Schornsteinen der Stadt. Die Sonne zeigte sich wieder. Er war zügig ausgeschritten, und trotz der durchnässten Kleider, die auch die Sonne nur halbwegs hatte trocknen können, war ihm warm geworden. Er wunderte sich über den Rauch. Es war zu früh im Herbst, um schon zu heizen, und jetzt, da die Sonne noch einmal Kraft bekam, hatte sich die Luft sogar ein bisschen erwärmt.
    Kurz vor der Stadt sah er auf einem Feld einen Mann ein Loch graben. Der Mann stand halb verborgen hinter einem Hain gestutzter Pappeln, und schon aus weiter Entfernung fiel Carl auf, dass es sich nicht um einen Bauern handelte. Auf dem Kopf trug er einen hohen Zylinder und statt des bei den Bauern üblichen Friespullovers einen Gehrock. Er sah aus wie ein Mitglied aus einer der vornehmen Familien der Stadt, der wie durch einen Zauberschlag in einen Bauern verwandelt worden war, ohne dass er Zeit gefunden hätte, die Kleider zu wechseln. Carl beobachtete ihn neugierig. Irgendetwas in den Bewegungen des Mannes und an dem breiten Gesicht unter dem Hut erinnerte ihn an jemanden.
    Als er näher kam, erkannte er Hinrichsen.
    Er lief übers Feld und hob die Hand zum Gruß. Hinrichsens Schuhe starrten vor Matsch. Auch seine grauen Überziehhosen waren besudelt. Die ehemals weiße Hemdbrust lugte dreckig zwischen den Jackenaufschlägen hervor, und über sein Gesicht zogen sich schmutzige Streifen.
    Hinrichsen blickte von dem Loch auf, an dem er grub. Neben ihm lag ein gefüllter Kissenbezug. Seine kantige Form deutete an, dass die Füllung nicht aus Daunen bestand.
    »Wie siehst du denn aus?«
    Eigentlich hätte Carl seinen Wohltäter gern dasselbe gefragt, aber so konnte er nicht mit dem Mann sprechen, der sein Schicksal in Händen hielt. Er wusste nicht, was er antworten sollte, und breitete nur die Arme aus.
    »Kann ich helfen?«
    Hinrichsen nahm seine Arbeit mit der Schaufel wieder auf. Er schaute auf den Kissenbezug, als wollte er prüfen, ob das Loch bereits tief genug war. Er murmelte vor sich hin, laut genug, dass Carl die Worte verstand.
    »Retten, was noch zu retten ist. Ja, darum geht’s jetzt.«
    Wieder warf er einen Blick auf den Bezug. Dann ruhte er sich auf der Schaufel aus, murmelte dabei aber weiter, doch diesmal so leise, dass Carl nicht hören konnte, was er sagte. Eine seltsame Verwirrtheit hatte Hinrichsens ehemals so zielgerichtete Energie abgelöst, als wüsste er kaum, wer er war und wo er sich befand. Eine Seite seines Gesichts zog sich zusammen, und er zwinkerte unablässig mit dem Auge, als ob es sich tatsächlich um ein nervöses Leiden handelte und nicht um

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