Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)
kleinen Zeichner aus Ærøskøbing wohl nicht fein genug.«
»Weshalb sollte ich eine arme Irre zeichnen? Wer hätte Freude daran?«
Er bekam einen Stoß und fiel erneut in den Matsch. Er versuchte auf die Beine zu kommen, doch Niels Peter setzte ihm einen Stiefel auf die Brust. Er beugte sich hinunter zu Carl und fasste nach dem Revers von dessen Jacke. Er zog ihn ein Stück hoch, noch immer stand dabei sein Fuß auf Carls Brustkorb. Niels Peter atmete schwer. Sein Gesicht bekam wieder diesen wilden Ausdruck.
»Du weißt gar nichts!«, brüllte er. »Wir waren es! Wir haben ihren verdammten Mistköter umgebracht! Wir haben ihr Haus angesteckt! Wir haben sie wahnsinnig werden lassen! Du weißt überhaupt nichts!«
Die Worte brachen aus ihm heraus, als bekäme er keine Luft mehr. Er wies auf die rote Stelle auf seiner Wange.
»Was glaubst du, weshalb ich so aussehe? Bist du so blöd, dass du glaubst, wir prügeln uns einfach so untereinander?«
Carl sah weg. Genau das hatte er vermutet.
»Ja aber, sie kann doch nicht …?«
Er bekam einen Faustschlag auf die Nase, der ihn zurück in den Dreck schickte. Blut lief aus seinen Nasenlöchern, Tränen traten ihm in die Augen. Er sagte nichts. Noch immer verstand er nichts, spürte aber, dass er für seine Dummheit bestraft wurde und es auf die ein oder andere Weise auch verdient hatte.
»Wer schlägt euch?«
Seine Stimme war belegt.
Niels Peter antwortete nicht. Seine Faust war noch immer geballt, als wollte er gleich erneut zuschlagen.
»Es ist Isager. Er ist ständig hinter uns her.«
»Halts Maul, Albert!«
Niels Peter warf dem kleineren Jungen einen warnenden Blick zu.
Isager, der Schullehrer, der Ehemann der Verrückten. Er also war der Quälgeist, an dem sie sich rächen wollten. Sie war nur zufällig dazwischen geraten, die Vergeltung der Jungen hatte sie getroffen.
Aber was dachten sie sich eigentlich? Wollten sie ihren Lehrer verbrennen, nur weil er sie schlug? Alle Lehrer schlugen doch. Die Väter taten es ebenfalls.
Er sah sie an. Sie waren Kinder. Waren sie auch Mordbrenner? Damals auf dem Lindesbjerg hatte er etwas anderes in ihnen gesehen. Hatte er sich geirrt?
Seine Nase blutete noch immer, und er spürte den bitteren, salzigen Geschmack des Bluts im Mund. Furcht keimte in ihm auf, nicht so sehr davor, was sie jetzt möglicherweise mit ihm anstellen würden, sondern eher vor ihrer wahren Natur.
Vielleicht lag deshalb Trotz in seiner Stimme, als er noch einmal erklärte.
»Ich zeichne nichts Hässliches.«
Er wiederholte sich. Er wusste es, doch das war seine Art, ihnen zu zeigen, wer er war. Er wollte nichts mit ihrer Welt zu tun haben. Jetzt hatte er es gesagt. Nun konnten sie mit ihm machen, was sie wollten.
»Du zeigst dich nicht mehr in Marstal!«
Niels Peter spuckte Carl ins Gesicht.
Ein Teil des Speichels hing an Niels Peters Unterlippe und tropfte ihm das Kinn herab. Es sah komisch aus. Er glich einem sabbernden Kind und nicht einem Mann, der gerade eine Drohung ausgesprochen hatte.
Carl hörte die Bitte hinter der Drohung. Er sah die Unsicherheit in dem lädierten Gesicht, als die Worte mit einer übertrieben erwachsenen Stimme hervorgebracht wurden.
Nun kannte er ihr Geheimnis. Er würde nicht petzen. Er glaubte auch nicht, dass sie Angst davor hatten. Aber er hatte in sie hineingesehen. Daher mussten sie ihn aus ihrem Gesichtskreis verbannen.
Die Jungen drehten sich um und gingen in dem gleichmäßig fallenden Regen davon. Nur Albert wandte den Kopf, um zu ihm zurückzublicken, als sie sich ein Stück entfernt hatten. Carl kam vollkommen verdreckt auf die Beine. Erst jetzt fasste er sich an die Nase. Prüfend blickte er in seine Hand. Dann rieb er sich mit dem nassen Ärmel übers Gesicht, um Niels Peters Spucke abzuwischen.
Er hatte keine Lust, nach Hause zu gehen, obwohl er spürte, wie durchgefroren er war. Stattdessen kehrte er zum Lindesbjerg zurück. Er zitterte am ganzen Körper. Und er fing an zu verstehen, was die Jungen mit der Zeichnung von Frau Isager bezweckten. Sie wollten ein Bild ihres eigenen Schreckens, vielleicht weil sie glaubten, dass eine Zeichnung ihnen helfen könnte, die Furcht zu bezähmen.
Kurz bevor er den Gipfel des Lindesbjergs erreichte, klarte es auf. Die dichte Wolkendecke über ihm bekam Löcher, der Wind fegte über den Himmel und verteilte die Wolken in alle Himmelsrichtungen. Die Nase blutete nicht mehr. Er kletterte auf das Hügelgrab, das den Sommer über ihr Treffpunkt gewesen war,
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